TAG OHNE DATUM

 

 

 

– Grün – oh, wie ich mir gefalle. Die Schuhe waren teuer. – Gebt mir einen Spiegel, damit ich mich drehen und wenden kann. Hundert Spiegel, nein, ich will noch mehr und alle Hände klatschen, klatschen – Applaus (Verbeugung vor einem imaginären Publikum) –

 

– Du brauchst die fremden Spiegel nicht. Ich bin ja da. Ich sehe dich. – Komm, wir wollen in die Stadt gehen. Ich habe ein wunderschönes Kleid gesehen. Ich will es dir kaufen.

 

– Vielleicht sollte ich mir schwarze Schuhe kaufen.

 

 

 

Text aus dem Theaterstück TAG OHNE DATUM. Das Stück wurde von der Theatergruppe Experiment Bühne am 28. März 1993 im KUZ Mainz uraufgeführt und am 30. März und 4. April 1993 nochmals gespielt.

 

Gefördert aus Projektmitteln für freie Kulturarbeit der Stadt Mainz.

 

Das Bühnenbild stammte von Peter Hohl, Ingelheim und war eine anerkannte Semesterarbeit für die Fachhochschule Gestaltung und Kommunikationsdesign, Wiesbaden (Fachbereich Innenarchitektur) und umfasste acht hohe, fahrbare Stellwände, eine Bahre, ein Kerzenständer, ein  Schreibtisch mit zwei blauen Stühlen, ein rosa Stuhl, eine Parkbank, ein Mülleimer. Die Musik wurde von Peter Mario Führ komponiert.

 

 

 

 

Lars Hennemann schreibt am 30. März 1993 in der Mainzer Rhein-Zeitung:

 

Tollkind wird zum Sündenbock

 

Es ist besser, du bleibst mir fremd wie alle anderen." Programmatisch schwebt der Satz im Raum, und der Zuschauer nimmt einigermaßen resigniert zur Kenntnis, dass wenigstens diese Worte ehrlich gemeint und nicht nur Ausdruck der Hilflosigkeit der ansonsten bedingungslos an ihre Rollen geketteten Existenzen der Postmoderne waren. Die Theatergruppe "Experiment Bühne" nahm sich im Kulturzentrum mit ihrer Produktion "Tag ohne Datum" der Isolation des Menschen in unserer Zeit an.

 

Trotz kleineren Schwächen lieferte das von Silvia Kiefer inszenierte Schauspiel schmerzhaft vertraute Momentaufnahmen und ließ auch die nie stillbare Sehnsucht nach einem Entkommen aus der Verlorenheit nicht zu kurz kommen. In einer namenlosen Stadt gehen auf einer kargen Bühne konturlose Einzelkreaturen ihres Weges. Niemand nimmt Notiz vom Gegenüber, jeder ist damit beschäftigt, seine ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Die Einordnung in die anonyme Masse erscheint als Full-time-Job, und so stimmt es nicht verwunderlich, dass man sich am Ende in der Totenhalle trifft, und niemand weiß so recht, warum.

 

Auch der obligatorische Sündenbock, das herrlich anarchistische Tollkind, steht zunächst ratlos da. "Tag ohne Datum" seziert, zwischen Ironie und Sarkasmus pendelnd, selbstverständlich gewordene Phänomene der Gesellschaft. Phantastisch die treusorgende Mutti im Blümchenkleid, die für alles eine Antwort hat. Notfalls wurde noch kräftig auf die Tränendrüse gedrückt ("Du hast mich ausgesaugt").

 

Tod als Konstante

Nicht von ungefähr fühlte man sich an Dorothea Dieckmanns unlängst erschienene brillante Schmähschrift "Unter Müttern" erinnert. Weitere Archetypen waren der sensationsgeile und ständig misstrauische Journalist mitsamt dem phlegmatisch-routinierten Fotografen sowie die gelangweilte Dame, der schließlich der Tod als einzig erstrebenswerte Konstante begegnete.

 

In Verbindung mit den  äußerst geschickt in die Handlung eingebauten Umbauphasen, die, in blaues Licht getaucht und von sphärenhaften Klängen untermalt, dem im Grunde traditionell strukturierten Stück experimentelles Flair verliehen, entstand ein schonungsloses Panorama moderner Ausweglosigkeit.

 

Ausweglosigkeit? Da war doch noch das Tollkind. Es genügt sich in völliger Naivität selbst und nimmt sich, was es will und wann es will. Spätestens seit Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" wird einem dieser Kunstgriff nicht unbekannt vorkommen. Leider beschränkt es sich oft darauf, belanglose Antworten zu geben, frei nach dem Motto "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott", und kam somit selbst nicht über die vorherrschende Phrasendrescherei, die zur Katastrophe führt, hinaus. Die erschien bei aller Phantasie doch arg konstruiert; die Verwandlung der aufmüpfigen Tochter in die Norne, die den Lebensfaden durchschnitt, war nur bedingt nachvollziehbar.

 

Ansonsten jedoch überzeugte "Tag ohne Datum" und forderte ohne große Effekte zum bitter notwendigen Nachdenken auf. Die als Epilog anzusehende Liebesszene stimmte tröstlich: Man hat es über Jahrhunderte nicht geschafft, die Tollkinder und mit ihnen die Freiheit zu verbrennen.

 

 

 

 

 

Rosa und weiß … es riecht so gut aus dem Totenhaus. Mach die Augen auf!, du musst dich ans Sterben gewöhnen.

 

 

 

Es spielten:

 

Tollkind / Sandra Jakob                                            

Frau in Weiß / Sabine Wandjo                                  

Frau in Schwarz / Silvia Kiefer

Frau im Blumenkleid / Barbara Jakob

Journalist / Konrad Dorenkamp

Fotograf / Flo Haug

 

 

Text und Inszenierung / Silvia Kiefer

Choreograf / Marc Travis

Bühnenbild  / Peter Hohl

Musik / Peter Mario Führ

Lichttechnik / Tim Sandrock