Aus dem Tagebuch der Eva-Maria Scheidt, Theatermacherin. Eine Theatergruppe auf dem Weg in die Schweiz, nach Sils-Maria, mit einem Koffer voller Socken für Nietzsche, der zeitlebens unter kalten Füßen litt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13. Dezember – Freitag

 

Erste Lesung.

 

So ein Theater. Abfall, Beifall, wer weiß, es steht in den Sternen. Die Truppe hat noch nicht entschieden. Vielleicht werden wir es machen, vielleicht auch nicht, und ich frage mich, ob das Stück unbeachtet im Schreibtisch verschwindet, unaufgeführt im Nirgendwo landet.

 

Sie brauchen Bedenkzeit.

 

Auch Wollner hielt sich bedeckt. Der Projektleiter ließ sich weder auf das Projekt noch auf die zahllosen Fäden ein, die ich bemüht war, ihm aus der Nase zu ziehen. Ich hoffe, er hält die tristen, farblosen Enden bis zur endgültigen Entscheidung beisammen.

 

Bin ziemlich am Boden. Schrecklicher Moment, die ratlosen Blicke, die nachher durch den Raum flogen. Und Wollner an mir vorbei in die andere Richtung. So kam ich ins Trudeln und griff ins Leere.

 

Das bin ich nun gar nicht gewohnt und finde mich schutzlos, nutzlos und völlig mir selbst überlassen. Auch während der Lesung, kein Erbarmen und niemand, der mich aufmunterte.

 

Sally war auch keine Stütze. Sie fühlte sich nicht wohl, neben mir, in der Hauptrolle. Der erste Versuch – gründlich gescheitert, aber das Risiko musste ich eingehen. Seltsam isoliert zog sie durch den Text. Ohne Freude durch alle fünf Szenen. Der Wunsch, mit den anderen an einem Strang zu ziehen, von mir weg und in der Not auch gegen mich in die Schlacht, war deutlich zu spüren. Aber die anderen gingen nicht darauf ein, also musste sie weiter und durch und hatte zu kämpfen. Oft genug war sie den Tränen nahe. Ich sah es mit Entsetzen und konnte nicht helfen.

 

Ihr Verhalten war überhaupt nicht einzuordnen. Sally, die sonst keine Unsicherheit kennt, die normalerweise in jeder Situation die Nerven behält.

 

Keine einfache Rolle, das stimmt, die Hauptfigur, auch und gerade weil es die einzig durchgängige Rolle ist. Im neuen Stück ist sie mit einem Sonderstatus ausgestattet, den es zu behaupten gilt.

 

Trotzdem, ich hätte ihr mehr Biss zugetraut. Auf ihren Willen wird es schließlich ankommen. In jeder Szene wird sie mit Leuten zu tun haben, die sie nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Und jede Szene ein Gebilde, das sozusagen seit Jahrhunderten besteht und in den Grundfesten nicht zu erschüttern ist: die Familie. Ein Rundumpaket – einmal im Heute angesiedelt, dann eine Bauernfamilie im 19. Jahrhundert, in Sils Maria und später das Familiengeschehen einer gehobene Gesellschaftsschicht in Basel mit Professoren, Verlegern, Hausdamen und Männern von Welt, junges Genie mit einbegriffen.

 

Letzte Station Irrenanstalt. Und Sally muss bei sich bleiben und der Einzelgängerin in jeder Szene einen Raum schaffen, den ihr die anderen mit Spielwut streitig zu machen suchen. Schon aus Macht der Gewohnheit. Das wird nicht einfach. In jeder Szene der freie Geist, der ungerufene Gast zu sein, die Durchreisende, die es darauf anlegt, zu ihrem Recht zu kommen, um eine bestimmte Person zu treffen. Der Anforderung ist sie noch nicht gewachsen. Ich spüre keinen Forschergeist, kein Wissensdrang, kein Streben. Noch nicht.

 

Ich muss Geduld haben. Außerdem war sie die Einzige, die auf die Lesung vorbereitet war. Die anderen haben zwei und mehr Rollen gelesen, die allerdings noch nicht optimal verteilt sind. Die anderen waren sehr mit sich beschäftigt und nahmen auf Sally keine Rücksicht.

 

Auf mich schon gar nicht. Wo war Gregor mit seinen Gedanken? Und Pascal? Wo Ines, und Helene hatte noch nicht einmal ein Taschentuch für die größeren Seufzer parat. Extrem unanwesende Frauenpower. Desto weniger konnte Sally sich beweisen.

 

Annette ließ sich gar nicht erst blicken. Das wird noch einige Kämpfe geben. Da werden bis zur Premiere noch einige Strümpfe zu stricken sein, bis mir warm wird und Nietzsche keine kalten Füße mehr hat.

 

Nach der Lesung saßen wir nicht mehr lange zusammen. Helene vermisste Mottl, den keiner eingeladen hatte. Wer braucht Licht? Um diese Uhrzeit.

 

Ich bin ungerecht, aber wir haben noch ein Huhn mit dem Leuchtkörper zu rupfen, die Beleuchtung bei den letzten Aufführungen war von Mal zu Mal unberechenbarer geworden. Die Liste der Kritik ist lang, aber zu gegebener Zeit und einem frischen Anlass. Das bringt jetzt gar nichts.

 

Außerdem stellten wir fest, dass mindestens zwei Schauspieler gefunden werden müssen, falls …

 

Aber noch gibt es kein Wir. Noch ist es dunkel, die Bühne verlassen, ohne Leben, ohne Sinn und Zweck, das Stück im luftleeren Raum, und ich – ein Spielball, hin und her geworfen, nach den ersten Reaktionen, achtlos in einer Ecke liegen gelassen.

 

Das Spiel ging an mir vorbei. Ich zeigte (die Zähne?) mein leidlich Unbehagen. Ungeachtet dessen ließ man mich in meinen geballten Fäusten und keiner vermochte die Starre zu lösen.

 

Zumindest von Wollner hätte ich mir eine Unterstützung gewünscht. Aber der Projektleiter ist schwanger und strickt im Moment bevorzugt an einem Babyjäckchen, Strickmützchen, Handschuhen. Ich bin untröstlich und habe jedenfalls nichts zu melden. Muss das Stück über Weihnachten wie einen löchrigen Pullover ins Nähkästchen legen und kaue an meinen Fäustlingen. Wollner sei Dank! Und Julius ganz der fürsorgliche Freund, der ihm das Wollknäuel hinterherträgt und aufpasst, dass er nicht zu schwer hebt. So in der Art, und bringt ihm einen Stuhl. Legt er ihm die Füße hoch? Dachte ich und machte ihn darauf aufmerksam, dass es noch eine Weile dauern würde mit der Hinfälligkeit und dass es mich auch noch gäbe. Dass ich auf seine Unterstützung angewiesen sein würde, aber er nahm weder meinen Unmut noch die Stricknadeln, die ich Wollner aus der Hand genommen hatte, zur Kenntnis.

 

Julius, du nicht auch noch! Schenk mir wenigstens einen bösen Blick! Hätte ich rufen mögen. Und was ich von dieser Fürsorge halte, werde ich nicht laut sagen, ist aber schnell zu Papier gebracht: Du träumst zurzeit von einem ganz anderen, einem eigenen Nest, ich weiß es genau, der Wunsch steht ganz oben auf deiner Liste, ist mit einem reichen Kindersegen und einer großen Liebe ausgestattet, die sich entfalten möchte. Kaum zu überschauen in ihrer Ausdehnung. Wie viele sollen es denn werden? Vier oder fünf oder sechs … inklusive Plätzchenbacken an Weihnachten, nur finden deine fruchtbaren Pläne den passenden Schoß dazu nicht.

 

Er wird ihn finden, verdammt! Aber hoffentlich nicht so schnell, im nächsten Stück brauche ich ihn unbedingt. Ich will nicht auf ihn verzichten. Verdammt, verdammt, ich leide jetzt schon Qualen, und habe nicht die geringste Lust auf große Tragödie. Aber so wird es kommen. Theater kennt keine Pause. Und was macht das Ensemble? Es kennt keinen Schmerz und mordet hinterrücks auf offener Bühne. Ich wusste meine rollenden Augen kaum zum Stillstehen zu bewegen.

 

Man ignoriert meine Ängste, darin sind sie großartig. Ich sollte die inflationäre Benutzung dieses Wortes allerdings vermeiden, der Zustand behagt mir nicht. Man lässt mich allein, übers Jahr allein, nun kann ich sehen, wo ich bleibe. Schwarzer Freitag! Es wird doch nicht an diesem 13ten gelegen haben? Der ist längst vorbei, weit nach Mitternacht …

 

 

 

14. Dezember – Samstag

 

Niemand ruft an, keine Seelsorge, keine Hotline und niemand in Bereitschaft.

 

 

 

15. Dezember – Sonntag

 

Sitze über meiner Ungeduld – gebeugt, geschüttelt … Nein, nicht zu Tränen gerührt. Ich werde mich beherrschen. Wahrscheinlich bis Mitte Januar. Es hilft ja alles nichts, ich muss warten, ziehe den Schal enger und hoffe auf das neue Jahr. Auf die eine oder andere Entscheidung und versuche zu arbeiten. Verschiedene Szenen müssen überarbeitet werden. Entscheidung bis spätestens … Heute ist Sonntag …

 

Morgen daran denken! Neue Kalender besorgen, für den Tisch, die Wand, das Auto.

 

Ein Crash? Morgen … Zusammenstoß mit dem alten Stück. Letzte Zusammenkunft mit Wollner. Ungünstiger Zeitpunkt, aber ich werde mir nichts anmerken lassen. Kein Zusammenbruch möglich. Große Abrechnung mit dem Projektleiter – das letzte Stück in seinen Zahlen, Umsatz, Kritik. Ausklang, dann Betrieb und Schotten dicht. Wir machen Weihnachtsferien.

 

Muss noch Weihnachtsgeschenke für Mia und Kurt besorgen! Habe also genug zu tun …

 

 

 

16. Dezember – Montag

 

Mamili pünktlich 7 Uhr 35 zur Bahn gebracht. So weit hat sie sich erholt, dass sie die Festtage in Sankt Moritz verbringen kann.

 

Ein Stein fällt mir vom Herzen. Mamili in 1822 Meter über dem Meer, in bester Champagnerlaune und warm eingemümmelt im Pferdeschlitten, wenn sie ins Silser Tal hinüberfährt. Hoffentlich …

 

Die Abwechslung wird ihr guttun, so kommt sie auf andere Gedanken. Der Tod ihres Bruders, die Beerdigung, es muss schlimmer gewesen sein, als ich dachte. Der Sarg muss mit einem lauten Krachen in die Grube gefahren sein. Ein Getöse soll es gegeben haben, ein Knirschen und Reißen, unbeschreiblich, sagt sie, ich will gar nicht daran denken.

 

Wie Mami das nur ertragen konnte … Abgerutscht, das Ding, weggebrochen … Sie hat sehr anschaulich davon erzählt. Da müssen Anfänger am Werk gewesen sein. Ein Seil, das gerissen war, eine Verankerung, die sich lockerte, jedenfalls hatten sie es nicht im Griff.

 

Die Leiche nicht im Griff, sagt man so?

 

Eine Erkältung kam dazu und machte die Sache für Mami noch schlimmer.

 

Und mein schlechtes Gewissen, dass ich sie allein habe fahren lassen, dass ich sie nicht habe begleiten können. Aber wir hatten Vorstellung, ein ausverkauftes Haus, da war nichts zu machen. Und Mamili, wie immer mit einem großen Verständnis für meine Nöte, kam mit Ohrensausen zurück, hörte nichts mehr, war taub auf beiden Ohren.

 

Auf das diesjährige Oldtimerrennen wird sie verzichten müssen, den White Star of Sankt Moritz wird eine andere Schönheit überreichen. Aber sie wird es verschmerzen und ab jetzt soll es aufwärtsgehen. Die Hörgeräte nahm sie schon gar nicht mit, ließ sie im Haus, in der Kommode, ganz hinten versteckt unter dem Plunder, den keiner mehr braucht und rief ihnen ein gut gelauntes Nie wieder! hinterher.

 

Jetzt wird sie bald dreiundachtzig und es braucht nur ein paar Tage im Engadin, ich bin mir sicher, schon sieht sie aus wie fünfundsechzig. Großartige Mami!

 

Ich kann wieder beruhigt schlafen, alles geht seinen gewohnten Gang. In diesem Jahr fehlt nur Tamie, die mit einer gebrochenen Nase und einem Oberschenkelhalsbruch … wo? – in einem anderen Kurort und abseits der Prominentenroute weilt. Die Ärmste! Aber so unhübsch wie sie sich fühle, könne sie nicht ins Getümmel nach Sankt Moritz, ließ sich entschuldigen und schickte eine Cousine in die Winterferien. Als Ersatz. Mami war es recht. In Sankt Moritz scheint die Sonne an durchschnittlich 322 Tagen im Jahr. Sagt sie und wird es prickelnd haben, nicht nur das Wetter, chic und exklusiv wie eh und je.

 

Aber es gibt auch stille Dörfer. Schöne Grüße soll sie ausrichten und einen Blick hinunterwerfen ins Tal, nach Sils hinüber, Ausschau halten nach meiner Aufführung, im Sommer und alles Gute wünschen.

 

Sommer … Ich komme gerade vom Weihnachtsmarkt … Und hätte der Liebe nicht … Apostel Paulus sprach, auf dem Bahnhofsvorplatz, streute Worte wie Konfetti, schwang seine Reden, prophetisch inmitten der Korinther, aber sonst … keine Geheimnisse, keine Erkenntnis, nirgends. Bin trotzdem geblieben, ging über den Platz, folgte der Stimme … und zeige Euch einen anderen Weg … vorbei an heißen Maronen, dem Bratwurststand … und all meine Habe verschenkte … Dort roch es nach billigem Fusel.

 

Ich beobachtete eine Fotografin auf Motivsuche. Vielleicht war sie für die Zeitung unterwegs, dachte ich, oder in eigener Sache. Ihr Ziel, vielleicht der neue Bahnhof … und wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke … im Zwielicht gelegen. Die Unschärfe könnte ein künstlerisches Moment gewesen sein, und dann dieses schäbige Etwas von Buden und Zauber, den niemand für möglich hält. Ein Kontrastprogramm. Es ging auch ohne Kamera.

 

Die Fotografin schaute zum Himmel. Als hätte jemand schmutzige Wattebällchen an den blassblauen Himmel geworfen. Voll Trübsinn, ein in Betrübnis geratener Himmel. Ein in Betrübnis geratenes Blau dämmerte vor sich hin. Sie suchte nach einem lichtempfindlichen Film, legte ihn in die Kamera.

 

Weihnachtsmarkt … Wenn man sich darauf einlässt …

 

Ich witterte Stallgeruch, fand ein paar Schafe, zwei Ziegen, die im Stroh stehen. Ein Streichelzoo für Kinder, die vom Gatter aus dürre Gräser reichen. Nebenan die letzten Weihnachtsbäume, ärmlich in ihrem Restbestand liegend, als hätte sie der Hagelsturm des Propheten getroffen … prahlt nicht, bläht sich nicht auf … und Schauwagen, die in der Innenstadt keinen Platz mehr gefunden haben.

 

Sah alles ziemlich vertrocknet aus, und hatte der Liebe schon lange nicht mehr. Eltern zogen ihre Kinder weg von dort, mochten das Gerede nicht hören … lässt sich nicht vom Zorn leiten … und wollten eigentlich nach Hause. Aber die Kinder hatten etwas entdeckt, ein Puppenwaggon, Attraktion in Kleinformat. Ein offenes Abteil mit Puppen wie vom Jahrmarkt.

 

Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand …

 

Die Kinder standen mit offenem Mund, rührten sich nicht von der Stelle und alle Zungenrede verstummte. Die Fotografin musste grinsen, machte ein paar Aufnahmen, ohne dass die Kinder etwas davon merkten. Die sahen und hörten nichts mehr. Da können Menschen reden, Engel, da hilft nur eins, es geht das Kind, ist zu bewegen … nur mit sanfter Gewalt … und wispert dem Kind ins Ohr, bald ist Weihnachten. Nein, die Liebe hört niemals auf …

 

Mir fällt diese Frau wieder ein. Wo kam sie nur auf einmal her. Als hätte sie ihr Traumland gefunden, versank sie vor meinen Augen in einer Welt aus billigem Plunder.

 

Sie stand vor dem Schauwagen mit den Puppen und konnte sich nicht davon lösen. Ich war vollkommen verwirrt und starrte abwechselnd auf sie und das Puppentheater, auf diese mit schwarzem Samt ausgeschlagene Bühne, auf kleine Podeste, die, nach hinten aufsteigend, nach vorne abfallend, den Puppen einen Platz zur Entfaltung bieten.

 

So ein Kitsch, dachte ich, löste mich endlich aus seidigem Puppenhaar, großen Kulleraugen und wand mich aus zierlichen Händen, drehte mich weg von allen möglichen Puppen in allen möglichen Größen, Farben und Trachten und sah die Frau neben mir weiterhin einem Wunderland verhaftet bleiben, in einer Gegend, die mich abstieß.

 

Kein Grund, sich darin unwohl zu fühlen. Ich könnte mir ein Stück vorstellen, Menschen wie Puppen auf einem Platz, vor dem Bahnhof, in Gruppen, einzeln, paarweise, und ihrer nicht habhaft werden. Schmerzlich, und sehr verführerisch, einen Weihnachtsmarkt auf die Bühne zu stellen. Aber auch nicht neu.

 

Abgeschmackt. Das hat einen Touch, der mir gefallend nicht gefällt. Glühweintrunken. Eine Idee, die ich gesucht haben könnte, wenn ich denn auf der Suche wäre. Aber ich muss ein ganz anderes Stück auf die Bühne bringen und verzichte auf den Glühwein, der mir nicht bekommt. Nach dem ersten Schluck rebelliert mein Magen.

 

Wenn nichts aus dem neuen Stück wird, könnte ich einen Roman schreiben. Und wäre unabhängig von meinen Kostverächtern. Dass ich die Frau vor dem Puppenwagen zur Kenntnis nahm, ist eine Sache, die mich beschäftigt, die Enge und Armseligkeit dieses Weihnachtsmarktes in einen Roman zu bringen, eine ganz andere.

 

Die Frau stand regungslos, versunken in den Anblick einer Puppe. Ein Engel wie aus einem Varietéprogramm hatte es ihr angetan.

 

Die Fotografin schien an dieser Frau ebenso fasziniert wie ich. Auch sie schien den Wunsch zu haben, in diese wachsweiche, undurchsichtige Masse hineinzugreifen, die teigige Masse zu modellieren, zu kneten, neu zu gestalten.

 

Was interessierte uns an dieser Frau mit dem Geschau eines alten Puppengesichts, die Haut fleckig, von dunklen Schlieren durchzogen, unansehnlich, abgegriffen, als hätte man sie auf dem Dachboden vergessen, ausgegraben, aus dem Keller, einer alten Kiste entnommen. Ein Gesicht, kaum noch zum Anschauen. Ein Puppenkopf aus Wachs, weder kalt noch warm, mit einem Gesichtsausdruck, haltbar für die Ewigkeit.

 

Alt schon seit ihrer Kindheit.

 

Frühaltes Wesen, von Anfang an gebunden an die Freudlosigkeit des Lebens, dass ich es mit der Angst bekomme. Auch Mitleid, zu sehen, wie gefangen sie ist, verhaftet in einen Urgrund, dem Mangel an Liebe.

 

Unwirklich kommt mir dieses Leben vor, und nie hinterfragt. Als Daseinsform angenommen. Ich glaube, es gab nicht einmal die Feststellung eines So und nicht anders. Es war eben so. Und nicht anders.

 

Sind Menschen, die gar keine Kindheit haben, hatten, die man sich als Kind gar nicht vorstellen kann. Ein Gesicht, das immer schon war und ist und bleibt, obwohl es keine Vergangenheit in diesem Gesicht gibt, nichts, das sich widerspiegeln würde. Das Gesicht eine Behauptung ohne jeden Beweis.

 

Ob es Sinn machen würde, der mattstumpfen Oberfläche einen neuen Glanz zu verleihen? Wahrscheinlich ein sinnloses Unterfangen. Es gibt nichts reinzuwaschen. Wir sollten sie endgültig auf dem Dachboden verschwinden lassen, sonst laufe ich noch Gefahr, mich an diese Figur zu verlieren.

 

Das Wahrnehmen dieser Frau hat etwas in mir angesprochen, auf das ich in Form eines Bildes reagiere. Ich sehe mich auf einem mittelalterlichen Jahrmarkt, in voller Rüstung, behelmt, die Klappe unten, mit Schild und Lanze, in Abwehrhaltung, abwartend, das Pferd neben mir bläht schon die Nüstern, schnaubt, und ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst haben soll.

 

Nicht dass ich einen Menschen gesucht hätte. Eine Figur. Ein Wesen von unberechenbarer Natur, aber künstlerische Routine ist ein zweischneidiges Schwert, ich sollte mich nicht wundern, unangenehm überrascht zu werden. Die Angst gehört zum Geschäft.

 

Man ist auch vor schönen Überraschungen nicht geschützt. Die Fotografin kommt ebenso wenig auf die Idee, ihre Arbeitsweise zu hinterfragen. Was ihr vor die Linse gerät …

 

Hat jemand eine Frage gestellt? Das Leben spricht, stellt Fragen und der Tod gibt Antwort. Ich sehe ein Verbrechen.

 

Und schauen in einen Spiegel.

 

Sie hat einen starken Willen, einen Willen, ins Unglück zu rennen oder andere ins Unglück zu stürzen. Andere mit hineinzuziehen. Unweigerlich. Glück oder Unglück, sie zieht ihre Kreise. Sie wird nicht für alle Zeit an dieser Bude stehen bleiben.

 

Das Motiv und sein Verbrechen, der Impuls und das Schreiben, der Mord und das Opfer, die List und die Tücke, die Tür und das Fenster zum Hof, die Ratten und der Fänger, das Wenn und das Aber, das Ja und das Nein. Wieso Mord, es ist doch nichts passiert. Sie sieht eine Puppe.

 

Ich fragte mich, ob sie die Puppe kaufen würde. Ob es bei diesem einen Wunsch bliebe. Aber dann kommt der nächste Wunsch, der nächste Mord. Wie komme ich auf Mord?

 

Was für eine Figur. Es ist wie Weihnachten. Mit Hede Glückselig (wie komme ich auf diesen Namen?) durchs Jahr. Frühling, Sommer, Herbst und dann zum Weihnachtsmarkt, der krönende Abschluss des Jahres.

 

Ich glaube, mit Silvester hat sie nicht viel am Hut, da schläft sie meist schon gegen zehn am Abend ein. Aber die Puppe, das wird ihr Überraschungsgeschenk, an Heilig Abend, eine Puppe, für die sie hätte morden können.

 

Muss ich mir Gedanken machen, habe ich Grund zu fragen, warum ich mich von dieser Frau und ihren Puppen angesprungen fühle. Aber ich stelle mein künstlerisches Wesen weder in Frage noch zur Diskussion. Ich bin auf Schnupperkurs und rieche … Aber sie strömte keinen Geruch aus.

 

Die Fotografin legt auf Gerüche weniger Wert, nehme ich an. Trotzdem, da wächst etwas zusammen, für später, etwas, das zusammengehört. Ich spüre eine Gemeinsamkeit, es muss einen Zusammenhang geben, einen tiefen Widerspruch, Abgründe. Und fühle mich ertappt. Hoffentlich hat sie kein Foto von mir gemacht. Es gibt Dinge, die sich besser mit Worten beschreiben lassen. Auf einem Foto würden sie den falschen Eindruck erwecken, oder nur die halbe Wahrheit zeigen. Ein Teil vom Ganzen – unbefriedigend in seiner Äußerung – unfertig, nicht komplett, unbeglückend.

 

Nehmen wir an, die Fotografin hätte den Auslöser gedrückt, während ich diese Frau beobachtete, die sich weder von mir noch von der Fotografin stören ließ, ganz versunken in das Objekt ihrer Begierde. Aber nicht nur sie fühlte sich ungestört, alle drei befanden wir uns auf einem Beobachtungsposten, in einem Jagdrevier, vereint in Kontemplation, eine Dreifaltigkeit, in erster, zweiter und dritter Instanz. Ich falle da noch am wenigsten auf, da ich mich in einem anderen Metier bewege. Lautlosigkeit, die man auf einem Foto nicht sieht.

 

Wir sollten uns schämen, Jagd auf Menschen zu machen, auf Puppen.

 

Was macht sie mit diesen Puppen? Zuhause, in der Wohnung, auf der Couch. Puppen, und dass man sich an ihnen erprobt, Macht über sie in Händen hat und sich an ihrem Wesen erfreut? Wie war das bei mir und will ich überhaupt darüber nachdenken?

 

Außerdem ist Hede Glückselig eine in Fesseln gelegte Person, wie das Theaterstück eine in Fesseln gelegte Geschichte bleibt, so lange sie nicht auf die Bühne gebracht wird. So lange sie in der Schublade bleibt und der Schreiberling ein Mensch, der auf Schauspieler angewiesen ist.

 

Nicht auf Puppen. Soll ich jetzt über Puppen philosophieren … Aber ich spiele nicht mit Puppen und werde die plumpe Gleichsetzung von Schauspielern und Puppen zu vermeiden wissen, oder, so blöde bin ich nicht, dass ich bestimmte Gleichsetzungen und Doppeldeutigkeiten nicht bemerke und unreflektiert stehen lasse.

 

Der Schauspieler verfügt natürlich über Projektionsflächen, über die er doch hoffentlich mitbestimmt, ganz im Gegensatz zur Puppe, die erst einmal frei von jeder Bestimmung ist. Puppen führen kein Eigenleben, sie stehen zur Verfügung, sind jedem erdenklichen Wunsch ihres Besitzers ausgeliefert und als ästhetische Geschöpfe der allgemeinen oder besonderen Betrachtung freigegeben. Man mustert sie anhand ästhetischer Kriterien, prüft Haltung und Aussehen, das Material, die Beschaffenheit und so weiter.

 

Und es wäre höchst bedauerlich, ein Schauspieler würde mir die bestimmungslose Leere einer Puppe anbieten. Die bestimmungslose Leere einer Puppe aus dem Kaufhaus ist weder herstellbar noch erstrebenswert. Natürlich hoffe ich darauf, bestehe ich darauf, dass der Schauspieler seine Regale so weit leer räumt, sortiert und Platz schafft, auch für ein Thema, das sich gut in einer Probe macht:

 

Jeder hat ein Verhältnis zu Puppen, ob Junge oder Mädchen. Wir projizieren hinein, was unserem kindlichen Gemüt ein Bedürfnis ist. Ob Junge oder Mädchen, ob klein oder groß. Wir können ihr alles Mögliche andichten, mit ihr anstellen, was wir wollen, der Puppe ein Ohr abschneiden, ein Auge ausstechen, die Zähne einschlagen. Wir werden das Thema zu gegebener Zeit wieder aufgreifen. Nur jetzt würde ich gern diesen Bahnhof verlassen.

 

Aber die Fotografin kann sich nicht lösen.

 

Genau in diesem Moment verlässt Hede Glückselig den Weihnachtsmarkt, geht am Bahnhof vorbei zur Unterführung. Die Fotografin folgt ihr, geräuschlos, auf Engelsfüßen.

 

Was interessiert die Fotografin noch länger an Hede Glückselig. Warum will sie wissen, wohin sie geht. Hat sie keine Angst, vielleicht lauert der Tod in der Unterführung. Aber da geht wohl die Phantasie mit mir durch.

 

Das wirkt ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, gerade weil die Fotografin nichts Engelhaftes an sich hat, eine junge Frau mit dunklen Haaren, die sie lang und offen trägt, die Jeans lässig, die Lederjacke schwarz, mit einem hellen Teddyfell gefüttert. Eine coole Frau, bodenständig und nicht aus der Ruhe zu bringen.

 

Ich bin der ängstliche Typ und Hede Glückselig macht sich auf den Heimweg. An diesem Tag kauft sie die Puppe nicht, aber ich sehe ihr die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Und dann sehe ich sie nicht mehr, sie ist in der Unterführung verschwunden.

 

Ich erwarte sie auf der anderen Seite. Ich warte, und warte, aber die beiden bleiben verschwunden. Zeit vergeht, ich bin unschlüssig, ob ich mir ein Bild machen soll, wage mich allerdings nicht in die Unterführung.

 

Es muss etwas geschehen sein. Die Füße werden mir kalt. Während ich überlege, ob ich mich davonmache, es geht gegen Mittag und ich bemerke, dass sich das Wetter ändert, der Himmel bereits aufgeklart hat und die Kondensstreifen der Flugzeuge wie Bordüren auf einem blauen Kleid ausgefasert am Himmel stehen, die wie aufgenäht wirken – wie von einer riesigen unsichtbaren Nähmaschine ans Firmament geheftet – genäht oder geheftet – noch während ich mich also auf Abwegen befinde, mich von weitschweifigen Gedanken himmlischer Stoffe ablenken lasse, ist Hede Glückselig schon ein gutes Stück weiter auf ihrem Weg. Ich sehe sie plötzlich wieder vor mir, auf der Straße, in einer unbestimmten Entfernung, vielleicht zehn, fünfzehn Schritte mit dem Rücken zu mir.

 

Ich bleibe auf Abstand, weil ich nicht weiß, was passiert ist. Sie ist stehen geblieben und dreht sich in meine Richtung. Die Situation wirkt aber nicht sehr bedrohlich, auch sehe ich keine Mordlust in ihren Augen. Trotzdem bin ich irritiert. Ihr Mantel ist offen und hängt ein wenig vom Körper, als hätte ihr jemand beim Ausziehen geholfen, gegen ihren Willen, gewaltsam. Ich kann es mir nicht erklären. Der Gürtel des Mantels hat sich auf einer Seite aus der Schlaufe gelöst und hängt mit seinem Ende am Boden. Hede Glückselig steht gebückt, die Umhängetasche ist ihr von der Schulter gerutscht und schleift über den Bürgersteig, während sie vorne an ihrem Kleidersaum herumzupft.

 

Sieht aus, als würde sie sich über die schlechte Qualität des Stoffes beklagen. Verstehen kann ich nichts, aber sie zieht missmutig an den Fäden, die lose am Saum ihres dunkelblauen Wollkleides herunterhängen. Ich glaube, sie ärgert sich über den schlechten Kauf, über die schlechten Nähte der hübschen weißen Bordüren auf dem dunkelblauen Wollstoff. Jetzt bin ich im Bilde, die Qualität der Ware ist zu beanstanden, die zwanzig Prozent Rabatt auf die bereits reduzierte Damenoberbekleidung haben sich nicht gelohnt. Sie wird das Kleid in die Änderungsschneiderei bringen müssen.

 

Mit solchen Gedanken hält sie sich auf, nachdem sie einen Mord begangen hat? Ich bin wie vor den Kopf geschlagen, nein, eigentlich nicht, aber ich suche nach einer Erklärung in diesem wirren Wolkenhaufen. Das Wetter hat sich schon wieder geändert, die Wolkenbildung nimmt zu und ich laufe angestrengt wie eine komische Wolke, sie hat die Form einer nackten Figur, die entfernt an Picasso erinnert, es ist diese Nackte, ziemlich kompakt, aus einer Serie, die entstanden ist, ich glaube kurz vor den Demoiselles, – ich laufe also kopflos (Serie anschauen!!) einem zerrissenen Wolkenkleid hinterher, das wiederum stark an Magritte erinnert. Konfuser Stilmix in meinem Kopf.

 

Ein Mord ist geschehen. Dass sie einen Mord begangen hat, steht außer Frage und dass es kein geplanter Mord, sondern ein spontaner Befreiungsschlag war, ändert nichts an der Tatsache. Ein Unrecht ist geschehen und sie hat kein Problem damit. Wie macht sie das? Ich sehe das Geschehen in ihrem Unterbewussten verschwinden.

 

Da ist das Problem ja gut aufgehoben.

 

Da ist doch alles gut aufgehoben, und der Mord belastet sie im Alltag nicht. Da schmerzt vielleicht die Hand. Es ist ja nicht so, dass man alles verdrängt, oder vergisst. Sie weiß, sie hat gemordet, und dann spürt sie den Rücken, die Schulter und überhaupt die ganze linke Seite. Wahrscheinlich ist sie gegen die raue Wand der Unterführung gefallen, gestoßen worden, ich sehe Aufschürfungen an der Hand und einen Kratzer im Gesicht.

 

Die Fotografin wird sich gewehrt haben. Den Kampf selbst sehe ich nicht, weder wie sie sich die Verletzungen zugezogen haben noch wie der Mord geschehen ist. Ich bin zu feige, mir das anzusehen. Aber ich sehe eine Puppe, den Engel mit dem Wachspuppengesicht, cremig, weiß, die reine Unschuld. Ein kleines Trostpflaster, das Hede Glückselig über die größeren Schmerzen hinweghilft.

 

Die Freude wie der Tod kamen unverhofft. Die Fotografin dachte sich unentdeckt. Aber Hede Glückselig hatte sie wahrgenommen, fühlte sich verfolgt, erkannt bis hin zu ihrem dunkelsten Punkt.

 

Kleine Lichtblicke. Gregor rief an. Und Pascal, mein Sonnenschein – inoffiziell, ich darf nichts wissen und mich nicht zu früh freuen, aber ihm gefällt das Stück.

 

Auch Gregor ist guter Dinge. Wir rollen gemeinsam mit den Augen, freuen uns auf die Weihnachtsgans und müssen keine Kinder kriegen. Er darf so tun als ob, im Stück, ich war gar nicht erstaunt, wie gut, wie hinterhältig er sein kann. Aus welchen Quellen auch immer er sein Genie zu speisen vermag, ich freue mich auf ihn. Wir sind verabredet, Sonntag, den 22sten, ganz privat, sehr charmant und vornehm bis ins Einstecktuch.

 

UND im Sommer nach Sils, hoffentlich. Die Betten sind bestellt. Alles ist bereit, der Ort, die Termine, das Stück. Fehlt nur das Ensemble, das es auf die Bühne bringt.

Stillstand macht mich nervös, und warte auf eine Gelegenheit, ihnen das Fleckchen Erde etwas schmackhafter zu machen. Es kann doch nicht alles umsonst gewesen sein – die Arbeit, der Kopfschmerz, der Aufenthalt in Sils. So schön … Ich brauche eine gute Impression, keine Gaukelei.

 

Opening: Hört zu! (möchte ich ihnen zurufen) und schließt für einen Moment die Augen …

 

Stellt Euch eine zauberhafte, von Weite geprägte Landschaft vor … Wenn ich ihnen an dieser Stelle zu viel Zeit und Raum gebe, habe ich ein Problem, denn jeder macht sich ein eigenes Bild, sucht sich eine eigene Landschaft, und jeder eine andere. Dann ist Mottl in Sibirien gelandet, und gleich erfroren, was er natürlich mir ankreiden wird.

 

Helene hat es in eine warme Gegend verschlagen – ich sehe sie in der Prärie, im Sand liegen und fasziniert von einem Erdhörnchen, dem sie dabei zuschaut, wie es eine Ringelnatter verscheucht. Ich sehe das Erdhörnchen mit Sand werfen, und wie es mit Steinen nach mir wirft.

 

Das führt zu weit.

 

Wo ist Julius?

 

Annettes Aufenthalt ist unbekannt und Ines kämpft sicherlich mit einem Löwen. Wollner ist auch in der Steppe, hat sich in Luft aufgelöst und nicht mehr auffindbar. Und Sally? Keine Ahnung, und wo Gregor sich aufhält, will ich gar nicht wissen. Pascal ist bestimmt in Rio, beim Karneval – auch eine Landschaft, in der man sich verlieren kann.

 

Es gibt in dieser zauberhaften, in diesem freien Raum keine oder kaum Haltepunkte, aber viele Möglichkeiten, zu verschwinden. Ich brauche also eine Landschaft … die Euch den Atem nimmt! Aber es stockt mir der Flug, die Phantasie ist unterbrochen.

 

Ich stolpere über einen Stein. Wir bleiben im Ungefähren, in einem Tal, auf einer Wiese, unweit der Seen. Wir ziehen die Schuhe aus, gehen ein paar Schritte, stehen barfuß im Gras, setzen uns, lehnen uns zurück und stützen die Arme ab. Jetzt haben wir Zeit.

 

Wir schauen uns um.

 

Ich werde festlegen müssen, wo genau wir stehen, sitzen. Vielleicht an diesem berühmten Felsblock in Surlei. Den ich mir allerdings anders vorgestellt hatte – nicht im Tal gelegen, aber natürlich, Nietzsche, der einsam gelegene Felsblock. Im Nachhinein wurde es mir klar, nachdem ich ein paar Briefe von ihm gelesen hatte. Ich kenne die Stelle aus seinen Beschreibungen und später von einer Fotografie.

 

Den Weg nach Surlei selbst bin ich noch nicht gegangen, ich werde es nachholen, aber es ist, glaube ich, eine gute Stelle, von wo aus man das Dorf sieht, das Waldhaus, auch Baselgia auf der anderen Seite, die Seen und eine Landschaft, die den Blick ringsum auf die Berge lenkt. Sehr hohe Berge. Noch höher. Da wollen wir hinauf! Mit einem Sprung.

 

Und jetzt! Hört ihr den Ruf, der Euch in luftige Höhen lockt! Immer weiter lockt. Nietzsche meinte, jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich …

 

Wir springen, hüpfen, bis zum Umfallen, bis man vergisst, dass es ein Unten gibt. Die Augen bleiben geschlossen … und weiter, bis ins ewige Eis der Gletscher hinauf.

 

Helene ist außer Atem und bekommt kalte Füße. Ich verliere den Faden in dieser herrlichen Bergwelt und ziehe mit den übrigen Gästen wie eine Wildgans über den Piz Bernina, Piz Scerscen, Piz Roseg, Piz Sella, Ils Dschimels, La Sella, Piz Glüschaint, Il Chapütschin. Kaffee, Herr Ober, bitte schön!

 

Die Arbeit ist damit nicht getan. Es wird notwendig sein, jedem einzelnen der Schauspieler nicht nur das Stück nahe zu bringen, sondern auch Nietzsche, eine tatsächliche Figur, keine erfundene, sondern ein Mensch, der gelebt hat, und wie man ihn sehen kann, wie ich ihn sehe, wie andere, gestern, heute, in der Zukunft.

 

Pascal und Gregor sind mir abhanden gekommen, gedanklich, später finde ich sie wieder, beim Kaffeeklatsch, den frischen Obstkuchen probierend, mit Schlagsahne und Mandelsplitter.

 

Schaut Euch um, wollte ich sagen, riecht den Schnee, schmeckt die Höhe, den Dauerfrost!

 

Helene ist begeistert und bestellt Erbseneintopf. Für eine Rast ist es aber noch zu früh, sage ich und will weiter, aber die Truppe weigert sich. Vielleicht sollte ich die Gegend (touristisch erschließen?) besser erkunden, damit ich sie zielstrebig und sicher auf den Piz Corvatsch hinaufbringe, ins Bergell hinunter und nach Maloja hinüber. Der wichtige Hinweis an alle Wanderer ohne Schatten, die Sonnenbrille mitzunehmen, kommt von Gregor und bringt mich endgültig aus dem Konzept. Wir sind hier nicht auf Urlaub! Aber die Luft wird mir dünn. Helene klagt über schmerzende Füße, Sally ist langweilig geworden und Mottl weiß nicht, wie er das Licht einrichten soll. Julius ist im Moment nicht zu erreichen und Ines gar nicht erst mit heraufgekommen.

 

Ich schaue noch einmal hinunter ins Tal, auf den See von Silvaplana und bringe sie wieder hinunter: zu Fuß, mit der Seilbahn oder mit dem Drachenflieger. Wie auch immer – wir treffen uns auf der grünen Wiese.

 

Mottl fängt mich ab und zieht mich beiseite. Will er über die schöne Landschaft … Nein, er will über Geld reden und ich werde das unangenehme Gefühl, erpressbar und wieder einmal auf die Barmherzigkeit eines Technikers angewiesen zu sein, nicht los. Pascal rettet mich und schenkt ihm ein Schwesternkleid, das er im Rucksack bei sich trägt. Er hofft damit einen positiv wirksamen Gruppenmechanismus in Gang gesetzt zu haben, obwohl ich da meine Zweifel hege.

 

Düstere Prognose. Mit Sicht auf den Verwalter des Lichts stellt mir Helene ein schlechtes Zeugnis aus, spricht mir jedes positive Gefühl ab, jede Zuversicht auf eine gute Zusammenarbeit und Ines zweifelt an meiner Menschenkenntnis. Gemeinsam plädieren sie für mehr Vertrauen. Ich solle mich nicht verweigern – ein ernst gemeinter Vorwurf.

 

Wir müssen ihn entweder emotional mehr an die Gruppe binden (welche Gruppe?) – oder husten. Wollner unterbricht meine leichte Erkältung und besteht auf präzise Angaben zu Ort und Umgebung, als Gegenpol einer Romantik, die da zu Ader gelassen wird. Muss ich mir anhören und fühle mich wie ein Ramschverkäufer. The best and only – ich bemühe die Touristikzentrale und bringe die notwendigen Zahlen, Orte, Höhenmeter. Was die Dokumente so hergeben und suche in den Akten.

 

Aber es gibt keine Akten. Vielleicht eine Familie. Wollner bringt das Thema auf den Tisch. Ob er die junge Familie mit ins Paradies nehmen könne?

 

Ist denn schon Zeit fürs Abendbrot?

 

Mit oder ohne Familie. Weshalb, vielleicht nur kurz, noch einmal auf den Löwen zurückzukommen wäre. Ich werde kämpfen, mit Verlaub.

 

Die Frage ist nur … Jetzt hat er sich aus dem Staub gemacht, in Schrift verwandelt, die ich nicht entziffern kann. Böse Worte, das muss keiner lesen. Aber es würde mir halt leid tun, unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren, nicht nur wegen der Tiere, und falls ich die Buchung stornieren muss, dann werde ich mich nach etwas anderem umsehen, alleine wandern und vielleicht ganz auf die Bühne verzichten. Soll mein Schatten sehen, wo er bleibt. Kann er machen, was er will. Was geht mich mein Schatten an. Ich suche mir einen anderen Job und besuche mein neues Unheil. Vielleicht kann es Hilfe gebrauchen. Ich biete einen guten Service. Und lasse die Herdplatte an.

 

Was mich das kostet … Aber meine neue Auftraggeberin Hede Glückselig hat eventuell einiges zu bieten. Ich glaube, sie lässt mir freie Hand in der Konzeption. Ich brauche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten, keine Einschränkungen, weder tags noch in der Nacht. Vielleicht hat sie ein Zimmer frei, es braucht nicht viel Platz. Auch sonst, ich stelle keine Ansprüche, eine heiße Suppe am Abend, wenn das möglich wäre.

 

Aber auf Nietzsche verzichten? Auch er ließ mir genug Spielraum, so lange ich seine Wünsche respektierte. Das Leben spielte sich in einem überschaubaren Rahmen ab, kultiviert, und jedenfalls in einem Rahmen ohne Mord und Totschlag. Ich durfte ihn auf seinen Reisen begleiten, auf der Suche nach dem richtigen Ort, einem geeigneten Zimmer und einer bekömmlichen Ernährung. Meist speiste er in kleinem Kreis oder allein, er mochte keine unliebsamen Besuche und keine Damen, die sich ihm bei Tisch näherten, auch keine Bierfeste, sonst konnte er für nichts garantieren. Aber ich übertreibe, ich bin immer gut mit ihm ausgekommen, wo immer er sich aufhielt, in der Stadt, auf dem Land, im Gebirge, und die Familie auf Abstand hielt.

 

Aber heute sind Familien willkommen. Steht im Prospekt. Ich kann Wollner beruhigen. Die Gegend ist kinderfreundlich, auch 1815 Meter über dem Meer. Auch im Winter.

 

Aber ich war im Sommer ins Sils. Letzten Sommer, eine Idee von Mami, die mir das Tal zur Erholung empfahl, wohl wissend, dass ich mich für Sankt Moritz zu keiner Zeit eigne.

 

Ich war mit dem neuen Stück beschäftigt und kam nicht voran. Die Gruppe war auf Tournee und würde noch bis in den Herbst mit dem alten Stück auf der Bühne stehen. Sie brauchten mich nicht und ich war schon in einer anderen Welt.

 

Mamili wusste genau den richtigen Ort für mich, obwohl ich anfangs skeptisch war. Aber ich brauchte dringend eine andere Umgebung, ich fühlte mich ausgelaugt und leer und hörte auf meine Mutter.

 

Aber der erste Eindruck von Sils war schrecklich, die Sonne über dem Tal von Silvaplana viel zu hell, das Tal wuchtig und breit, umrahmt von einem mächtigen Gebirgspanorama, das mich zu erschüttern drohte. Ein viel zu großes Tal, ein viel zu großer See, und noch ein See, darüber sich ein hoher, weiter Himmel spannte, wie Nietzsche sagte, ein Himmel, der mir ein großes Unbehagen verursachte. Das Tal so weitläufig, abweisend und kalt. Ich wollte auf dem Absatz kehrt machen. Aber das ging natürlich nicht. Ich musste ja erst einmal ankommen, ein wenig ausruhen und die Sonnenbrille finden.

 

Das war eine Nacht gewesen. Seit Stunden unterwegs und seit dem Frankfurter Kreuz Regen, Regen, Regen. Nach einer sechsstündigen Fahrt auf der Autobahn, einem düsteren Traum von Eintönigkeit, die der Regen verursachte, einer Schwärze, in der ich mich unruhig von einer Seite auf die andere warf, und im Bewusstsein eines Schlafes, den man im verprasselten Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos flieht, setzte langsam die Dämmerung ein. Ich war nach dieser unwirklichen Fahrt im Dauerregen und der einschläfernden Wirkung der Scheibenwischer hellwach und nach einer letzten Konzentration bei der Überschreitung des Passes in 2.300 Meter Höhe mit meiner Geduld am Ende.

 

Ich wähnte mich im Außerhalb jeder Zivilisation. In dieser Anhäufung von schuttiger Öde erlebte ich einen Temperatursturz, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. Es war Mitte Juli, aber draußen herrschte eisgrauer Nebel, der sich in dichten Schwaden und einer Kälte von sechs Grad Celsius nicht an den Sommer zu erinnern schien. Es war 9 Uhr am Morgen, geplagt von heftigen Kopfschmerzen konnte ich kaum noch die Augen offen halten. Der Mund war vom Gähnen ganz müde.

 

So kam ich langsam aus dem Nebel heraus und fand keinen Geschmack an der neuen Umgebung. Die Offenbarung der unvergleichlichen Luft blieb aus. Ich hatte keinen Blick für den unvergleichlichen Himmel, fuhr hinunter ins Tal, in meine Pension und wurde freundlich in Empfang genommen.

 

Ich bezog mein Zimmer und seltsam, mich überhaupt nicht heimisch fühlend fiel mein Blick aus dem Fenster auf die dunklen, im Schatten liegenden letzten Baumbestände und ging weiter hinauf in den eisigen Stein der Felswand und endlich wurde es still. Nur das Holzfenster schepperte unwirsch in seinem Glas. Der Kitt saß locker und Lack blätterte vom rostigen Eisen der Verstrebung, aber das alte Sofa gefiel mir, das solide Bett, ein Holzschrank, die alte, weiß gestrichene Tür.

 

Es war, als fielen Jahrhunderte von mir ab. Das frische Bettzeug lockte, aber ich entschied mich für einen Spaziergang.

 

Der Vormittag war schnell vorüber. Nach einem Rundgang am See und mit einem Kaffee zurück auf meinem Zimmer, nahm ich den Tisch in meine Ordnung, machte ein paar Notizen, da schallte auch schon der Gong durchs Haus und rief zum Essen. Ich ging hinunter und wurde im Speiseraum von einer italienischen Mamsell an meinen Platz geleitet.

 

Sie beäugte mich argwöhnisch, aber nicht nur mich, auch die anderen Alleinsitzenden, auch beim Essen, ich setzte mich also gerade und schaute auf meinen Teller, die Karte. Es gab Gnocchi á la Romana – Consomme mit Fideli, Lachsstreifen in Zitronensauce, Pommes nature, Karotten und eine Créme Caramel – ich weiß es wie heute, den Speisezettel habe ich aufgehoben. Noch während der Vorspeise kam ich über drei Tische hinweg mit Jessie ins Gespräch und nach dem Dessert war ich mit Romundt, der am Nebentisch links von mir saß, bekannt.

 

Aufgefallen war er mir bereits an der Rezeption. Pension Chasté, ein geschichtsträchtiger Ort in einem geschichtsträchtigen Tal. Erika Mann hatte schon dort übernachtet, ihr Bruder ebenfalls, erfuhr ich von Romundt. Der Vater allerdings nicht, Thomas Mann hatte sich ausquartieren lassen. Es war wohl nicht nach seinem Geschmack, alles zu klein und zu eng. Ich fand es inmitten der verstaubten Zeit wunderbar heimelig und hatte auch noch Platz für Hermann Hesse.

 

Den Kaffee nahmen wir zu dritt im Lesezimmer. Romundt lud mich für den späten Nachmittag zu einem Besuch ins Nietzsche-Haus. Der Historiker würde einen Vortrag halten, über Nietzsche und das Theater seiner Zeit. Ich war durchaus interessiert, nicht nur wegen des Vortrags. Jessie, die mir den Vorschlag machte, sie auf einen Ausflug zu begleiten, wollte ich zu einem späteren Zeitpunkt treffen.

 

Ich wollte mich langsam von unten nach oben arbeiten. Jessie weilte schon ein paar Tage länger in Sils, hatte das Nietzsche-Haus bereits studiert und für diesen Tag einen Ausflug mit der Bergbahn auf die Furtschellas geplant.

 

Frischluft, Höhenluft, sie fuhr hinauf, ich fuhr hinab ins dunkle Verlies meiner übernächtigten Seele. Ich blieb im Tal und besuchte ein Puppenhaus des 19. Jahrhunderts.

 

Hatte ich die falsche Verabredung getroffen? Ich bekomme einen trockenen Hals und überlege, ob das Stück heute anders aussähe, wenn ich mich für grüne Wiesen auf luftigen Hängen, für eine saftige Alm in den Schweizer Bergen anstatt für eine grüne Tischdecke in einem bedrückend niedrigen, grün gestrichenen Zimmer, das einige Sommer von Nietzsche bewohnt wurde, entschieden hätte.

 

Wenn ich nur daran denke. In diesem Haus fühlte ich mich lebendig begraben, zu Gast auf der eigenen Beerdigung und von einer innerlichen Unruhe getrieben, die ich damals der anstrengenden Fahrt zuschrieb. Ich verschanzte mich hinter einer großen Sonnenbrille und wollte nicht erkannt werden.

 

Auch nicht von mir. Die Neugierige?

 

Ich kam mir wie ein Eindringling vor, fühlte mich von einem unsichtbaren Wesen bloß gestellt und hatte gleichzeitig ein Kribbeln im Bauch. Dermaßen an Unausgeglichenheit leidend verhielt ich mich still zwischen all den anderen Raubvögeln, den Zuhörern und Angesprochenen im Spiegel seiner nicht ganz einfach zu folgenden Gedanken.

 

Ich war bestimmt keine Freundin, wollte ihm beileibe nicht zu nahe treten und ging an seiner Totenmaske vorbei, den ausgestellten Dokumenten, und lehnte das mir angebotene Glas Wein ab. Ich machte mich klein und dünn, mied die Nähe der anderen Besucher und spürte eine Anwesenheit, die es darauf anlegte, mich kalt anzufassen. Zumindest glaubte ich mich von einer gewissen Anspannung unter Druck gehalten.

 

Was hatte Nietzsche mit den Gauklern zu tun?

 

Romundt las aus seinen Briefen. Wenn man sagt, der Dramatiker (und der Künstler überhaupt) schaffe wirklich Charaktere, so ist dies eine schöne Täuschung und Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe feiert, sagte er.

 

War das ironisch gemeint?

 

Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Romundt wusste nichts von mir als Stückeschreiberin, und ich zu diesem Zeitpunkt nicht, wohin, wozu mich dieser Ausflug bringen würde. Noch war ich auf Erholung hier, und lauschte seinem Vortrag. Mir wurde nicht wohler.

 

Das Unwohlsein hatte mich aber schon mit Eintritt in dieses Haus erfasst. Als hätte mich jemand genötigt, die Touristin in mir abzustreifen. Denke ich und finde die Dotterblume, die ich vor seinem Haus pflückte. Nach dem Besuch, dann doch, als Erinnerung aufgehoben, getrocknet finde ich sie in meinen damaligen Notizen. Und werde sentimental?

 

Nicht weiter tragisch. Ich frage mich nur, ob es ihn amüsiert hätte. Ich glaube aber, eher nicht. Er hätte es wahrscheinlich als die Geste einer dummen Pute, als Schwärmerei einer der immer gleichen Bewunderinnen abgetan. Verständlich, ich kann ihm da nur beipflichten, weibliche Verehrerinnen sind zu allen Zeiten unmöglich. Obwohl ich damals noch gar keine Bewunderin war, sondern eingeschüchtert und kleingeschrieben. Die Bewunderung für den Stilisten kam später.

 

Mit meiner Ausdrucksweise dürfte er weniger einverstanden sein, aber das Stück würde ihm gefallen, ich bin mir sicher. Wir haben die gleiche Auffassung von Theater (die wäre? Gott ist tot, es lebe der Schauspieler? "Gott ist tot" in Bezug auf Darwin, in Bezug auf die Entwicklung des Menschen, Evolution, SIEHE Frösche, giftige grüne Idealisten, die Engländer Herbert Spencer und Henry Thomas Buckl). Wenn ich mir nicht sicher wäre, ich würde es nicht auf die Bühne bringen. Die Sehnsucht nach Gott bleibt lebendig.

 

Langsam kam ich an. In der ersten Nacht hatte ich trotz Kopfschmerz gut geschlafen, vollgepumpt mit Aspirin, wilden Kulturschnipseln und guter Bergluft. Am Morgen freute ich mich trotz Blei in den Knochen auf eine kleine Wanderung. Wenn die Wanderschuhe erst einmal aus dem Koffer sind … Mit Augentropfen und nur mehr ein wenig Kopfschmerz dachte ich an Romundt und seine Fürsorge am Abend: Mindern Sie ihre Schmerzen! rief er und reichte noch ein Aspirin.

 

Ich fühlte mich ihm nah.

 

Allein, mit dem Wind und der frischen Luft als Begleitung machte ich mich auf den Weg und fand hinter dem Nietzsche-Haus den Einstieg ins Fextal. Es war ziemlich kalt und der Himmel von einer niederen dicken Wolkenschicht bedeckt. Nur über dem Nietzsche-Haus ein aufgerissenes Stück in der Wolkendecke. Unglaublich wirkte diese Öffnung, mysteriös wie eine von aufmerksamer Hand aufgehaltene Tür, dahinter das hohe, weite Blau, das an Strahlkraft kaum zu überbieten war.

 

An meinen erstaunten Schilderungen später bei Tisch erkannte der Historiker, dass ich neu in der Gegend war, überhaupt das erste Mal im Engadin, auch und gerade in Bezug auf Nietzsche.

 

Nach einer kräftigen Abendmahlzeit mit Hackbraten MAISON, den Nüdeli in Butter, Salat und einem Kirschkompott, nach einem kleinen Spaziergang am See und viel Aufmerksamkeit, die Körper und Geist genossen, nach einem guten Gefühl, sich verwöhnen zu lassen und einem Frühstück am 25. Juli, nach der Haferflockensuppe und anderen Zärtlichkeiten wollte ich den Dialekt der Ansässigen studieren, das Tal, die Gegend und überhaupt, ich war verliebt.

 

Wie soll man da arbeiten? Fragte ich mich, schon weit weniger angestrengt nach einer kreativen Pause Ausschau haltend. Eva-Maria ist ein sachlicher Typ (?), sagte der Historiker und brachte mir eine Engadiner Nusstorte vom Markt. Zwei Monate haltbar. Mindestens.

 

In den nächsten Tagen sahen wir uns häufiger. Das Holzfenster schepperte weiter in seinem Glas, das Kreuz, verstrebt, reckte sich gen Himmel, während ich mich bei Kaffee und Kuchen der Idee näherte, das Schauspiel mit dem Ensemble nach Sils zu bringen.

 

Ich dachte mir ein luftig leichtes Sommerstück, das gar nichts mit Nietzsche zu tun haben würde, ein Stück im Stück mit irren Verwechslungen, Liebe und Intrigen und allen Grausamkeiten, die zu solch einer Unternehmung gehören.

 

Ein Stück wie aus dem Leben und eine Theatergruppe, die es zur Aufführung bringt, über die Berge, an diesen Ort. Schöne Aussichten – das Leben, ein Spiel mit großer Verletzungsgefahr.

 

Die Idee wurde in Sils geboren, nach einem Strawinsky Konzert, das wir gemeinsam besuchten.

 

Das man wahrlich gesehen haben musste. Der Pianist glänzte durch einen virtuos leidenschaftlichen Ekel in allen zehn Fingern, der sich nicht nur auf den glühenden Wangen seines zur hässlichen Fratze erstarrten Gesichts, sondern in einem durch und durch zornigen Wesen offenbarte, das uns sowie seine Lackschuhe bis ins Mark hinein erschütterte. Ich weiß es genau, weil ich auf seine Schuhe achtete, die mir mit einem Mal tonlos grau und stumpf erschienen, bis er plötzlich einen vollkommen anderen Ton anschlug und vor Liebe blass wurde.

 

Was war geschehen? Ich weiß es nicht. Wir konnten uns aber weder seiner Wut noch den darauf folgenden Schmeicheleien entziehen, obwohl ich mich gern unter einem Schrank versteckt hätte.

 

Wenn ein Schrank in der Nähe gewesen wäre. Also blieben wir sitzen und harrten der Dinge, die einerseits mit beiden Händen auf eine Vergangenheit einschlugen, die sich redlich mühte, uns noch in der Gegenwart zu zertrümmern und andererseits mit zarten Umschmeichelungen zu lieben vermochten, zu berühren, als trachte er mit seinem Spiel nach unserem Leben.

 

Als bitte er um Verständnis.

 

Ich hatte kein Verständnis, aber einen Plan, der sich beim anschließenden Punsch in einer Szene äußerte, die von Jessie sofort ins Swyzerdütsche übersetzt wurde. (Auch ein kritischer Punkt, den ich nicht zerstreuen konnte – die Gruppe hat Bedenken, dem Schweizer Dialekt gerecht zu werden.)

 

Mit Leichtigkeit schöne Seelen demaskieren. Der Ernst war ihnen als Schmerz allzu bekannt … Auch wenn das Stück mit Nietzsche nichts zu tun haben würde – eine Behauptung, die der Historiker mit einem Fragezeichen vermerkte – die Schäferin hatte alle meine Wortschäfchen ins Trockene gebracht und versprochen, im nächstes Jahr wiederzukommen. Auch wegen des Theaterstücks.

 

Wie herb und grausam erscheint mir das Leben ohne Theater. Und welch eine Blamage, wenn nichts daraus wird.

 

Aber es wird einen Weg geben. Es muss.