Zum Inhalt

 

No Risk, no Chance! – Der Roman bewegt sich in der Welt eines Finanzberaters und vieler Jobsuchender, einer Schriftstellerin und einer Nachbarin, die in der Firma des Finanzberaters tätig ist. Es geht um Freunde und andere Vermögensanlagen, um Ex und Hop, um Rennfahrer und Langzeitarbeitslose, es geht um die Freude am Leben und wie sie einem vergeht. Es geht um die Wurst und das ist zu 95% die Wahrheit, bei höchstens 5%iger Lüge oder umgekehrt. Je nachdem – es kommt auf die Rendite an.

 

Die Liebe eines alten Mannes zur Kassiererin im Supermarkt ist der Titel eines Romans, der nicht geschrieben wurde. Die Kriminalautorin Beate Langenfeldt wurde in ihrem ursprünglichen Plan, einen Liebesroman zu schreiben, von kleinen und großen Fischen gestört und legte die Notizen beiseite. Wie es dazu kam, schildert dieses Buch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ALLES P RIMA

 

Martina P. ist verschwunden. Ich muss zugeben, dass sie mir fehlt, auch wenn der Schmerz langsam … – Trotzdem kein Grund zur Freude.

 

Auch wenn mich ihr Verschwinden mitunter völlig kalt lässt, im nächsten Moment trifft mich eine Hitzewelle, die mir derart zu schaffen macht, dass ich mich sofort ins Bett legen muss. Es ist entsetzlich.

 

Es ist ein Widerspruch, und das auch noch in doppelter Hinsicht, weil ich nicht weiß, welchen Minusgraden sich diese Ungemütlichkeit verdankt. So hin und her gerissen und vor die Frage gestellt, wie es mir geht.

 

Alles prima! Ich bin soweit zufrieden. Der Wadenwickel hat geholfen. Ich darf nur nicht an sie denken. Puste, puste Kuchen, und schon ist sie wieder da.

 

Das ist kein Zustand! Seit Wochen? Wann war das?

 

Ich könnte in meinem Terminkalender nachschauen, aber das Fieber ist gerade ein bisschen gesunken, die Erkältung so gut wie überstanden. Ich tat jedenfalls mein Bestes. Das heißt, ich nahm jede Hilfe in Anspruch, die sich mir bot.

 

Eine alte Freundin las mir aus der Hand. Sie sagte, Martina P. sei nichts zugestoßen. Eine schöne Lesung war das. Eine liebe Freundin.

 

Ich war für jede Lüge dankbar und befand mich auf dem Weg der Besserung.

 

Ich wollte auch mal wieder raus, unter Leute, in die Kneipe und in Ruhe ein Bier trinken. Man muss von Zeit zu Zeit das Thema wechseln können. Das sagten auch meine Freunde. Es ändert ja nichts. Sie ist weg, und das ist in Ordnung, falls es ihr Wunsch war, ganz einfach zu verschwinden. Aber woher soll ich das wissen? Und warum zum Teufel sollte die Wahrheit über Martina P. in meiner Hand geschrieben stehen!

 

Ich sehe etwas anderes. Und somit waren die Zweifel wieder da. Die Wahrheit steht anderswo geschrieben, glaube ich.

 

Das Misstrauen kehrte auf geradem Wege zu mir zurück. Das Thema hatte mich wieder.

 

Es gab keinen Abschiedskuss, auch keinen Brief, nichts. Sie hat mir nicht gesagt, wohin sie gehen würde. Und deshalb gehe ich kein Bier trinken, sondern bleibe stattdessen wie ein Schluck Abgestandenes auf meinen Gefühlen sitzen und überlege, ob ich die schale Brühe endlich runterschlucke oder doch besser wieder ausspucke. Dieser ekelhafte Geschmack hängt mir so zwischen Speise- und Luftröhre. Und wenn ich jetzt rülpsen muss …

 

Ich horche weiter angestrengt in mich hinein und kann mich nicht entscheiden – weder für den Schmerz noch für die Gleichgültigkeit. Kein schöner Zustand. Auch keine verpatzte Liebe, obwohl es sich im Moment so anhört – wie ein Kerl, und vielleicht sollte ich besser einen Kamillentee trinken, mit Vanille, das ist weiblich.

 

Wahrlich, ich sage Euch! Diese Drohung würde ich gern in die Welt schicken, damit man sie mir zurückbringt, auf dem Tablett serviert. Ich hätte ihr einiges zu sagen. Und während mir allmählich der Appetit vergeht, sitzt Martina P. hoffentlich in irgendeinem Lokal, einem schicken Restaurant, im nächsten Bistro, und lässt es sich gutgehen. Auf dein Wohl! Auf dem Wasser? – Ja, vielleicht hockt sie auf einem Ozeandampfer und amüsiert sich zu Tode. Ich meine, soll sie hocken, wo immer sie lustig ist. Wenn ich es nur wüsste, dann könnte ich meinem Ärger ein wenig Luft machen. Aber die Bilder, kurz angeklickt, lösen sich sofort wieder auf – ein sicheres Indiz dafür, dass mich keines der Bilder wirklich zu überzeugen vermag. Und das schlägt sich bei mir auf den Magen. Ein altes Berufsleiden. Ich muss es schon genauer wissen.

 

Sie hat sich in Luft aufgelöst – dieser Satz ist geradezu lächerlich und sagt überhaupt nichts über ihr Verschwinden aus. Niemand verschwindet einfach so. Und deshalb versuche ich, sie mir an einem bestimmten Ort vorzustellen, bei irgendeiner Tätigkeit, einer Handlung – bis hoffentlich ein Bild entsteht, das mir eine genaue Auskunft gibt.

 

Im Moment verweigert sie sich, bleibt ortlos, wortlos, als hätte sie die Arme verschränkt und mir den Rücken zugewandt. Aber das kann ich nicht akzeptieren, denn auch für eine mögliche Trotzreaktion muss es eine Erklärung geben. Es muss einen Ort geben, an dem sie sich aufhält, vielleicht sogar versteckt. Hockt in ihrem Versteck und wartet darauf, was ich als Nächstes tun werde. Fehlt nur, dass jemand Action! ruft, und mir fällt ein: Ich habe meinen Text nicht gelernt!

 

Schauspieler haben solche Träume. Aber ich bin kein Schauspieler und es gibt auch kein Drehbuch.

 

Sehr wahrscheinlich bin ich auf der falschen Fährte. Und noch immer nicht angezogen. Der Regisseur tobt und wartet auf meinen Einsatz. Ich soll improvisieren.

 

Darauf war ich aber nicht vorbereitet. Und was soll ich anziehen? Diese Frage beschäftigt mich.

 

Was das mit meinen Klamotten zu tun hätte! fragt sich der Regisseur. Das scheint unter diesen Umständen völlig gleichgültig zu sein – was ich anhabe, wie ich aussehe …

 

Der Film kommt mir albern vor, so unwirklich. Ich kämpfe mit einem Schluckauf. Das passt mir überhaupt nicht – in eine aktive Rolle schlüpfen, die sich aus lauter Vermutungen speist. Und das auch noch ungeschminkt.

 

Ein Wurm, der sich selber frisst – weil er so schön oder so … Hrck … hässlich ist? Weil er Hunger … Hrck … hat oder Langeweile? Ist es kalt oder warm? Das muss man doch … wissen! Wie soll man denn sonst spielen! Das muss einem doch … Hrck … gesagt werden …

 

Niemand sagt etwas. Da ist kein Regisseur, da gibt auch keiner Anweisungen. Ich stehe ganz allein in einer dunklen Ecke und zähle bis zehn, bis hundert, bis ich schwarz werde. Aber das mit dem Versteck ist eine unsinnige Idee. Martina P. hat sich nicht versteckt. Das kann ich mir abschminken. Das würde voraussetzen, dass sie eine Energie in Gang gebracht hätte, die sie damals gar nicht hatte. Und dass ich von einem Thema zum anderen schlappe, in die nächste Falle, die ich mir selber stelle und prompt hineintappe, das macht mich so kinematografisch.

 

Welcher Film steht auf dem Programm? Echt komisch. Ob sie mich auslacht? Auch nur eine Vermutung, die sich vor lauter Lachen keinen Raum zu finden weiß. Ich weiß einfach nicht, wohin mit all dem Dreck.

 

Der ganze Schutt, die Erinnerung – es fällt auf mich zurück, weil ich Martina P. doch gar keine böse Absicht unterstellen kann. Ich habe ihr nichts vorzuwerfen. Ich will ihr nur meine Meinung sagen.

 

Überraschungsfilm der Woche. Obwohl ich das seit einiger Zeit nicht mehr mache – in einen Film gehen, bevor er offiziell ins Programm kommt. Nicht weil ich Geld sparen wollte, sondern auf die Gefahr hin, die Zeit zu vergeuden und enttäuscht zu werden.

 

Das muss man üben. Vorbeugende Maßnahmen sind das, weil man doch nicht wissen kann, was einen erwartet. Mein Freund empfahl mir diese Taktik. Ein kreativer Mensch. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen.

 

Er meinte, ich sollte besser vorbereitet sein. Worauf, das konnte er mir nicht sagen. Ein ziemlich hartes Brot.

 

Opa Hansen fand die Idee gar nicht schlecht – weil es mir immer zu gut ging. Das hat er gesagt und damit hat er Recht. Ich bin ein verwöhntes Kind, und daraufhin auch gleich wieder ins Kino, weil ich einen Heidenschreck bekam.

 

Es stimmt! ich bin überhaupt nicht gewappnet. Und mein Freund, ein Fachmann für Taschenspielertricks, entwickelte ständig neue Strategien, die es ihm schließlich leichter machen würden, mich zu verlassen.

Wenn ich das gewusst hätte! Aber man will nichts anderes, als angenehm überrascht werden. Es ist uns ja nicht auszutreiben. Ein Fehler, und mit dieser Blödheit müssen wir leben. Das werde ich Old Shatterhand bei Gelegenheit sagen – dass er besser früher damit angefangen hätte, mich zu enttäuschen. Jetzt ist es zu spät. Nachher zu sagen, es ging dir immer zu gut, das bringt doch nichts. Mit einer fruchtbringenden Desillusionierung muss rechtzeitig begonnen werden. In meiner Kindheit gab es nur Winnetou. Und jetzt … – ein Scheißfilm nach dem anderen.

 

Auch wenn ich mich bemühe, es hat nichts genutzt, obwohl ich mir tapfer auf die Schulter klopfe. Man macht sich etwas vor, nicht nur im Kino. Ich war ziemlich enttäuscht, als er mich verließ. Der Freund, ein Meisterdieb, der mir meine Zeit stahl.

 

Vielleicht sollte man genauer auf seine Vorlieben achten, eventuell seinen Neigungen entsprechen und sehen, worauf man Lust hat. Wenigstens im Kino. Im Leben sollte man sich andere Gedanken machen, da vergeht einem der Spaß und man hat genug damit zu tun, die Unkosten wieder reinzuholen – ein bisschen Ausgleich schaffen wegen der unliebsamen Überraschungen. Gern auch im Kino! Und solange sich noch immer Gründe finden lassen, das Leben zu genießen, ist nichts verloren. Diese Sprüche sind meiner lieben Freundin Martina P. zu verdanken. Aber vielleicht sollte ich nach meinen eigenen Absichten fragen. Vielleicht sollte ich mich ganz einfach auf die Socken machen. Katz oder Maus? Ich lass das mal offen und schnür meine Schuh. Und das ist eigentlich mein ganzer Ärger – dass ich loslaufe, dass ich mich bewege, mich schreibend fortbewege. Aber nachdem die polizeilichen Ermittlungen eingestellt wurden, bleibt mir nichts anderes übrig.

 

Es wäre allerdings wenig ratsam, einfach loszulaufen und zu hoffen, dass sie mir rein zufällig über den Weg läuft. Auf den Zufall darf ich mich nicht mehr verlassen. Reine Zeitverschwendung. Das kann ich mir in diesem Fall nicht leisten. Ich werde also entgegen meiner sonstigen Arbeitsweise – Privilegien, die sich durch fehlinvestierte Zeit auszeichnen – einen konkreten Plan benötigen. Weil ich in diesem Fall keinen Kriminalroman schreibe, sondern auf der Suche nach einem Menschen bin. Ich will ja nicht im Wahnsinn enden.

So ein Irrsinn! Wenn ich nur sagen könnte, meine liebste Freundin ist verschwunden, hat mich vor die Tür gesetzt, redet kein Wort mehr mit mir. Wie das unter Freundinnen manchmal so vorkommt. Damit wäre doch etwas anzufangen… bis die Fetzen fliegen oder: Da kommt einem die Galle hoch. Man sucht nach guten Gründen und schlägt die Tür, falls einem die Argumente ausgehen. Und nachher ist alles wieder gut.

 

Man hat sich einmal ausgesprochen. Das ist von Zeit zu Zeit notwendig. Aber statt Türen schlage ich mich mit einem Zuviel an Informationen herum, die meine Kanäle verstopfen und eine große Unordnung auf meinem Schreibtisch verursachen. Das ist nicht in Ordnung. Da hat sich eine Wut angesammelt und ich weiß nicht, worauf ich eigentlich wütend sein soll. Wir hatten nämlich keinen Streit, keine Auseinandersetzung, nichts. Wir waren, wir sind uns völlig fremd.

 

Vielleicht sollte ich Martina P. ganz einfach erfinden, um sie endlich kennen zu lernen. Vielleicht sollte ich mir die Geschichte tatsächlich aus den Fingern saugen, damit ich etwas in den Händen habe. Damit ich ihr an die Gurgel gehen kann. – Könnte schon sein. Jedenfalls sitze ich hier schon viel zu lange tatenlos herum und warte auf ein Licht, das mir die Angelegenheit erhellt. Es bleibt aber neblig. Wir haben Ende November.

 

Die Umstände ihres Verschwindens sind mehr als mysteriös und ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch am Leben ist. Seit Wochen warte ich auf ein Lebenszeichen. Seit Wochen sitze ich am Schreibtisch und bin zu keiner Arbeit fähig. Es ist zum Haare ausraufen. Ich kann mich nicht konzentrieren, ich kann überhaupt nichts tun, solange dieser Fall nicht aufgeklärt ist.

 

Ich stehe vor einem Rätsel. Es ist, als hätte mir jemand die Fäden aus der Hand genommen. Es ist, als hätte mir jemand das Leben genommen. Und ich muss mich fragen, inwieweit ich für die Ereignisse verantwortlich bin. Hätte ich besser aufpassen müssen? Hatte ich Tomaten auf den Augen?

 

War es ein Diebstahl? Das hört sich komisch an, und wenn ich von einem Menschenraub ausgehe, dann müsste ich ja eigentlich von einer Entführung sprechen. Aber ich muss an einen Diebstahl denken, weil es mir tatsächlich so vorkam, als hätte sie jemand gestohlen, einfach so, wie eine Puppe, die man vom Rücksitz eines Wagens klaut.

 

Beweisen kann ich das nicht. Ich weiß nicht, wie es passierte, wann es passierte. Und der große Unbekannte – wahrscheinlich soll er nur von mir ablenken – eins im Sinn, denn was immer ich mir auch zusammenreime, ich gehöre dazu, bin mit im Spiel, und suche nach einer Regel, die ich verletzt haben könnte.

 

Schwierig, weil ich noch nicht einmal weiß, um welches Spiel es sich handelt. Unfair ist das! Und außerdem die doppelte Belastung für ein flügellahmes Spatzentier, das sich liebend gern entschuldigen würde, aber nicht weiß, wofür.

 

Ich kann mich nicht entschuldigen, nur weil ein Spiel unterbrochen wurde, das ich nicht kenne, und ein Mitspieler verschwunden ist, den ich überhaupt nicht vermisse. Das wäre wie lieblos aufgewischt, wie arglos weggeräumt, unter den Teppich gekehrt, so absolut … contemporary … Entschuldigung! – ich mach das gleich noch mal. – Ja, von wegen!

 

Ich suche also nicht nur nach Martina P., sondern auch nach einer Möglichkeit, mein schlechtes Gewissen loszuwerden. Ich kann ja schlecht leugnen, dass ich eins habe. Aber von diesem permanent gehaucht, gestöhnten Ääh?, das man in diesem Fall eigentlich nicht groß schreiben kann, wächst das Entsetzen und hyperventiliert die Atmung, während das Ä immer kleiner wird, ganz klein, noch kleiner. Das Entsetzen weitet sich und raubt mir das Ä. Es verliert sich, und zurück bleibt nur ein leises Stöhnen und Hauchen bei geöffnetem Mund und gekräuselter Stirn – die ich mir aber glatt und schön gebügelt vorstelle.

 

Dieser schreckliche Zustand dient ja ausschließlich der Faltenbildung. Wer will das schon.

 

Mit einem schlechten Gewissen kann ich nichts anfangen, aber ich würde mich trotzdem ganz gern entschuldigen, weil … – Mein Gott, wie oft hatte ich mir gewünscht, sie würde ganz einfach aus meinem Leben verschwinden. Jetzt könnte ich froh darüber sein, so eine Art Jubelschrei ausstoßen und mich dann aus dem Fenster stürzen. Martina P., die ich mir gern vom Leib gehalten hätte.

 

Ich kann es nicht anders sagen, sie war mir lästig, von Anfang an. Ich fühlte mich gestört, wann immer sie auftauchte. Aber durch ihr Verschwinden ist sie plötzlich immer und überall, verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Bei jedem Klingeln schrecke ich auf, renne zur Tür und hoffe, dass sie vor der Tür steht – als wollte ich ihr noch einmal die Tür öffnen. Bei jedem Telefonanruf nehme ich den Hörer in die Hand, in der Hoffnung, dass Martina P. am anderen Ende der Leitung ist und mir irgendeinen Scheiß erzählt. Jedesmal wenn ich zum Briefkasten gehe, beim Einkaufen …

 

Ich will mein Leben wieder im Griff haben und nicht an jeder Straßenecke nach Martina P. Ausschau halten. So kann ich nicht arbeiten, völlig mit den Nerven am Ende, mit Blick auf mehr als ein Fragezeichen.

 

Es ist so viel liegen geblieben, aufzuarbeiten, aber seit ihrem Verschwinden kam ich nicht mehr zum Schreiben, befällt mich die Angst, überhaupt nicht mehr schreiben zu können. Ein Roman ging mir immer schnell von der Hand, ich musste mich nicht in Frage stellen, konnte mich ins Thema stürzen. Es lief wie von selbst. Ein Rausch. Das Gefühl für die Geschichte war da, alles floss und troff mir ungehindert aufs Papier. Ein Verbrechen nach dem andern jagte mir durch den Kopf. Jetzt hat sich Martina P. in meinem Denken festgesetzt, eingenistet – die Frage der Schuld bleibt offen.

 

Seit Wochen warte ich auf eine Nachricht und sehe doch nur Bilder, die mich verrückt machen. Deshalb musste ich eine Entscheidung treffen. Ich muss zurück in mein System, bevor es pathologisch wird, bevor ich anfange, an den Nägeln zu kauen. Jeder braucht schließlich ein System, in dem er gut aufgehoben ist – jedenfalls soweit und so gut, dass man es aushält, ohne ständig das Gefühl zu haben, gleich von Bord springen zu müssen. Das wäre kein gutes System.

 

Der Vorwurf ist nicht aus der Welt zu schaffen – Martina P., die ich nicht habe halten können. Aber wir saßen eben nie im gleichen Boot. Das macht die Sache so schwierig. Und vielleicht hatte ich gar keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Wenn ich nur wüsste, ob sie freiwillig ausgestiegen ist, bei vollem Bewusstsein oder in geistiger Umnachtung. Sie war verwirrt, das schon, aber ich dachte, zusammen würden wir es schaffen.

 

Ich hatte keinerlei Bedenken. Wir waren unterwegs und plötzlich war sie verschwunden.

 

Die schrecklichen Bilder, die ich mir ausmale – zu fünfundneunzig Prozent gebe ich ihr die Schuld daran, die restlichen fünf Prozent nehme ich auf meine Kappe.

 

Es könnte sein, dass sie einen großen Fehler gemacht hat. Es könnte sein, dass sie mit Absicht von der Bordkante gestoßen wurde. Alles ist möglich.

 

Vielleicht hatte ich sie im falschen Moment alleingelassen. Auch das wäre möglich. Bilder, die ich nicht mehr loswerde. Martina P. – orientierungslos in der Welt umherirrend, verschachert und weiß der Himmel in welchem System gefangen. Und wenn ich mir vorstelle – die Möglichkeit, dass sie tot sein könnte. Ich muss das in Erwägung ziehen … dass sie irgendwo auf dem Waldboden liegt und verreckt sein könnte … dass auch mein letztes Stündlein geschlagen hat. Und dann stehe ich plötzlich wieder in diesem Wald, in der Gegend, wo ich sie zuletzt sah, und suche nach ihr.

 

Ich warte auf ein Zeichen, das sie mir schickt, suche nach einer Spur, der ich folgen könnte, nach einer Idee, die mich leitet, damit ich sie endgültig verliere, aufgebe, wieder finde.

 

In diesem Wald, wie bescheuert … wie grün … – Licht funkelt durch die Blätter, aber es ist ein seltsames Licht, das den ganzen Wald in ein künstliches Grün taucht, ganz unnatürlich, aber, wie schön, und Worte schwirren in der Luft, so um mich her, als wollten sie mir tatsächlich etwas sagen. Die Worte sind in weißer Schrift in die Luft gemalt und ergeben überhaupt keinen Sinn. Aber schön …

Von Scheinwerferlicht angestrahlt schweben die Worte hin und her, auf und nieder und so sehr ich mir wünsche – sie fallen mir nicht in den Schoß.

 

Soll mich der Schlag treffen! – Das Bild bleibt, ich krümme mich auf dem Boden, halbseitig gelähmt, recke eine Hand in die Höhe, vergeblich, ich kann die Worte nicht greifen. Ich giere danach, aber die Worte bleiben in der Luft hängen, jetzt wie Silberpapier, wie das glitzert. Ein Hohn!

 

Strahle du nur und lass mich verrecken. Aber mach das Licht aus, bevor du gehst – es blendet die Augen.

 

Ich will schlafen. Das linke Auge fällt schon zu, das rechte zuckt noch ein wenig.

 

Mein letzter Hoffnungsschimmer – ein Wort fällt zu Boden und bleibt direkt vor meiner Nase liegen. Ei wie fein! – meine Neugier ist sofort wieder geweckt und ich frage mich, ob man das Wort vielleicht riechen kann.

 

Wie riecht so ein Wort? Ich kann mich zwar kaum noch bewegen und der Nacken ist steif, aber ich rucke mit dem Kopf nach vorne, zur Seite und rieche daran. Das Wort riecht nach Seidenpapier, das kommt aus irgendeiner Verpackung. Schuhe könnten darin eingewickelt gewesen sein. Aber nein, das würde ich riechen.

 

Das Wort kommt direkt aus der Fabrik – Werkhalle I-VI. Da stehen die jungen Frauen am Fließband und stanzen Worte aus Seidenpapier. In Halle II machen sie das. Das läuft dann automatisch in Halle III. Dort werden die Worte von jungen Männern in Kisten verpackt, die über Rollbänder die menschenleere Halle IV verlassen und auf dem Hof von nicht mehr ganz so jungen Vorarbeiterinnen gestapelt werden. Stapelfahrer (Alter unbestimmt) laden die Kisten auf. Das geht den ganzen Tag, alle arbeiten im Akkord, es herrscht Vollbeschäftigung rund um die Uhr, in drei Schichten. Die Berge werden niemals kleiner, die Worte gehen niemals aus, und obwohl sich die Kinder, die allzeit bereitstehen, beeilen, um die Kisten abzuholen – sie werden nicht fertig. Eins nach dem andern laufen sie mit den Kisten über die Straße hinüber zum Platz – die Kisten sind ja nicht schwer – und schütten den Inhalt mit leichter Hand durch ein offenes Wolkenloch.

 

Beim Betrachten dieser Bilder frage ich mich natürlich, ob ich nichts Besseres zu tun habe. Ich spreche ein Machtwort und sage mir in einem ernsthaften Ton, dass es wahrscheinlich vernünftiger wäre, zwischendurch mal wieder eine Kleinigkeit zu essen, vielleicht ein Käsebrot, und mir fällt ein, da sind auch noch irgendwo ein paar Radieschen im Haus. Setz dich in Ruhe hin, sage ich, iss was und nimm ein Schluck Wasser, das erfrischt, und diese wunderlichen Bilder werden wie von selbst verschwinden.

 

Aber meine fünf Prozent lassen mich ja doch nicht zur Ruhe kommen, was soll ich machen. Also! was passiert eigentlich in Halle I? Stehen da Designer und entwerfen die neueste Kollektion modischer Worte? – So ist es! Die Kreationen werden auf Schnittmuster übertragen und jedes einzelne Wort bekommt seinen Platz auf einem Stück Stoff. Dann werden sie ausgeschnitten und an die Näherinnen weitergereicht. Die sind ziemlich alt und machen den Saum, damit es nicht ausfranst.

 

Das Original wird in Handarbeit gefertigt und bevor es in die Massenproduktion geht, kommt der Spürhund und prüft die Sache auf Herz und Nieren. Das Wenigste findet Gnade vor dem Herrn. Das Meiste wird verworfen, ist durchgefallen, passt vorne und hinten nicht, wird aus der Produktion herausgenommen, kommt auf den Müll. Da gibt es auch Berge von, die holt der Sondermüll. Abfallbeseitigung, das machen die alten, grauen Männer. Die haben schwer zu schleppen an dem Mist. Die verfluchen Gott und die Welt.

 

Anders die Kinder, die haben ihren Spaß an dem Geschäft. Ich kann das Wort riechen, ein wirklich himmlischer Duft, aus Kinderhänden geworfen. Das riecht so sauber und so frisch. Aber ich kann es nicht lesen. Unleserlich liegt es vor meinen Augen, das Wort, in sich verdreht, verwickelt das Ganze. Eine verzwickte Angelegenheit, mein Arm ist nicht mehr zu gebrauchen. Ich muss es mit den Lippen versuchen, und will nach dem Wort schnappen. Der Mund ist wässrig geworden.

Endlich bekomme ich das Stück Papier zu fassen, es klebt an der Lippe, so leicht, so luftig, und wenn ich nicht aufpasse – schon passiert! Das Wort in meinem Mund, es klumpt sich zusammen, ich kann nichts dagegen machen.

 

Runterschlucken will ich es nicht, also wieder ausspucken und hoffen, dass es in der Sonne trocknet und sich entrollt. Aber da kann ich lange warten. Der kleine Papierklumpen liegt auf dem moosigen Waldboden, jetzt wie ein Fremdkörper, der da nicht hingehört. Wie ausgespuckt, weggeworfen.

 

Ich habs vermasselt. Da rollt sich nichts auf, da entwickelt sich nichts. Da entsteht kein Wort. Und vielleicht werde ich nie erfahren, was mit Martina P. geschehen ist. Dieser Tatsache muss ich ins Auge sehen.

 

Ich werde es nicht in der Hand haben. Und werde sie doch nicht mehr los. Ironie des Schicksals – sie ist allgegenwärtig, sehr nah, greifbar – die Puppe in seiner Hand.

 

 

 

 

In einem anderen Theater

 

Entweder du gehörst dazu oder du gehörst nicht dazu! So einfach ist das! Thomas hat Recht. Sie macht sich keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung.

 

Schon gleich am Morgen … – sie dreht sich bereitwillig um, so dass er sie von hinten nehmen kann. Und mit einer Lässigkeit, die sie stets an ihm bewundert, öffnet er den Verschluss ihres Kleides.

 

Manchmal trägt sie einen Rock, dann schiebt er ihr die Hand unter den Pullover, die Bluse, je nachdem, wie auch immer. Ihr gefällt dieses Spiel. Ein Ritual, bevor die Arbeit beginnt. Sie verdreht noch nicht einmal die Augen. Nein, sie ist ganz brav. Außerdem ist er ein Gentleman, sehr einfühlsam.

 

Mühelos drückt er ihr die Hand gegen den Steiß, greift wie ein Geburtshelfer durch Fleisch und Knochen und schiebt sich an der Wirbelsäule vorbei bis hoch zum Hals. Nur im ersten Moment dreht sich ihr der Magen um und die Gedärme rumoren. Nicht weiter schlimm. Er ist ein höflicher Mensch und hat gute Manieren. Er wartet geduldig, bis sie sich von diesem ersten kleinen Schock erholt hat. Und wenn er endlich den letzten Halswirbel zur Seite gelegt, wenn er mit der Hand durch den Hals in den Rachen gelangt, lässt die Übelkeit nach und die Zunge löst sich.

 

Sie versucht es mit einem freundlichen Guten Morgen! – ganz vorsichtig, es kann eigentlich bloß angedeutet werden. Sie muss auf jeden Buchstaben achten, will sie ihm nicht in den Finger beißen. Das ist lieb gemeint – er weiß es zu schätzen, und der erste Vokal, vom Konsonanten nur leicht angestoßen, verlässt den geöffneten Mund. Dann wird es schon schwieriger, sie hält inne, die nächsten Umlaute müssen sanft umgangen und etwas aufgeweicht werden, ohne das Wort aus den Augen zu verlieren. Und die Betonung nicht vergessen! – Geschafft!

 

Der zweite Teil ist wesentlich einfacher. Die Konsonanten werden schnell verdrückt und mitsamt den Vokalen nach hinten in den Gaumen geschoben. Sie muss schlucken, aber auch dieser Brechreiz geht vorüber. Die Anstrengung hat sich gelohnt, die Begrüßung soweit in Form gebracht, dass man sie einigermaßen verstanden hat.

 

Sie macht den Mund zu. Ein Hauch von rotem Lippenstift bleibt in der Luft. Erdbeergeschmack. Wohlwollend erwidert er ihren Gruß und pflegt ein wenig Konversation. Er streicht sich übers frisch rasierte Kinn und erzählt von seinen Heldentaten, von Sonntagsausflügen, den neuen Bergsteigerschuhen … – Sie lauscht gebannt und riecht sein Aftershave. Nein, sie himmelt ihn nicht an. Sie spürt ein leichtes Kribbeln in der Nase, ein Kratzen im Hals und muss sich räuspern.

 

– Na, wie war das Wochenende?

– Wie? – War das eine Frage? Sie ist nicht ganz bei der Sache.

 

– Das Wochenende! – Er wiederholt sich nicht gern. Darauf sollte sie achten.

 

– Ach so! – Ja, ja … – Gut! – schön, das Wochenende … – Sie hat eine belegte Zunge, trockene Lippen und muss schon wieder schlucken.

 

– Aber das ist doch keine Antwort! Er lacht.

 

Warum schreit er denn so? Sie überlegt. Will er das jetzt ausgeschmückt?

 

Die Konversation verläuft etwas stockend. Sie weiß nicht, was sie sagen soll, außerdem würde sie ganz gern etwas aus ihrer Tasche holen, die Lutschpastillen, aber sie kann sich nicht bewegen, ein Taubheitsgefühl, auch in den Armen und in den Beinen, kein Gefühl, wie gelähmt, auch im Nacken, der wird schon steif. Das ist ärgerlich, nicht nur wegen der Lutschpastillen. Was ist nur los? Es gibt Tage, an denen er … – Nicht, dass er unbedingt zärtlich oder liebevoll mit ihr umgehen sollte – das wäre der Situation auch gar nicht angemessen. Aber heute ist er unausstehlich. Heut´ mit viel Gebrumm. Obwohl sie bestimmt keine von den zartrosa Typen ist, die beim ersten rüden Ton wegknicken wie ein (blassblauer Schimmer?) – Ach, sie hat keine Ahnung … – aber um etwas mehr Taktgefühl möchte sie schon bitten. Er kann doch wirklich sehr charmant sein.

 

Heute nicht! Sie knirscht mit den Zähnen.

 

– Autsch!

 

– Entschuldigung! Das läuft noch nicht rund. Die Puppe ist ein bisschen widerspenstig, denkt er. Aber das liegt nicht nur an ihr. Es muss ihm eine Laus über die Leber gelaufen sein, denkt sie.

 

Er hat sie nicht richtig im Griff, irgendwie bloß halbherzig übergestülpt, so auf die Schnelle, deshalb muss er sie noch einmal um die Taille fassen und mit der freien Hand soweit zurechtrücken, damit sie besser auf der spielenden Hand sitzt. Ein letzter Ruck – perfekt! – so kann das Tagwerk beginnen. Beginnet es aber mit Fröhlichkeit und seid zu gutem Tun bereit. Schrumm! Dreh dich, mein Mädele …

 

Mit einem Lied wird sie sich den Bewegungen des Meisters endlich anpassen können. Es wird aber auch … – Steh auf, es ist jetzt an der Zeit, der Tag hat sich gezeiget. Die Amseln singen schon im Grund …

 

… im Tal die Bächlein springen … – da muss jetzt noch ein bisschen mehr Bewegung rein. Arme und Beine, auch der Hintern hängt schlaff. Jetzt frisch immerzu, da geht schon der Hopser um. Er summt eine Melodie und der junge Morgen tut sich kund mit didl, dudl, dadl. Er dreht sie auf dem Handgelenk, erst langsam hin und her, dann etwas schneller, immer schneller, der Kopf fliegt nach rechts und nach links außerdem. Arme und Beine schlackern wie wild um ihren Körper herum, so dum, dideldum.

 

Ja, ja! Das sieht lustig aus, bringt sie aber aus dem Konzept. Dieses Auf und Ab, dieses Hin und Her – es ruiniert die Frisur!

 

Es fliegen die Zöpfele … – Sie weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Aber heute heißt es lustig sein, denn morgen ist es aus. – Ein doofes Spiel. Sie kann sich einfach nicht daran gewöhnen. Vom Drehen und Wenden schlottern ihr die Knie, die Hüftknochen knirschen leise im Gelenk, der Rücken bricht.

 

Außerdem hat sie einen Schuh verloren. Sie beruhigt sich mit dem Gedanken, dass dieses morgendliche Umeinandergehüpfe eine Ausnahme bleibt. Hoffentlich. – Das Gezappel geht ihm dann doch auf die Nerven. Er muss sich setzen. Gut so! – Sie bittet höflich um ein Glas Wasser. Er hört aber nicht zu, lässt den Arm sinken und schaut gedankenverloren aus dem Fenster.

 

Sie liegt ganz ruhig auf seinem Knie. Auf dem Tisch steht ein Glas Wasser. Sie bittet noch einmal darum. Er nimmt sie hoch und gibt ihr einen Schluck, ohne weiter darauf zu achten.

 

– Sehr aufmerksam! – Aber sie trinkt viel zu hastig und hat sich auch schon verschluckt. Jetzt ringt sie nach Luft. Er klopft ihr auf den Rücken, damit es aufhört. Das erleichtert die Angelegenheit.

 

– Vielen Dank!

 

– Schon gut! – Da spürt sie doch gleich wieder sein goldenes Händchen und bedankt sich recht herzlich für die letzte Rendite. Das wollte sie schon die ganze Zeit sagen. Darum ist sie doch hier. Jetzt fällt es ihr ein. Zu spät! – Während sie erst langsam wieder zu Atem kommt, treiben ihn schon längst die Geschäfte um.

 

– Die Aktien sind doch hoffentlich gestiegen! – Sie fährt zusammen. Hat er diese Hoffnung nicht etwas zu laut in den Raum geworfen? – Hört sie da einen leicht verzweifelten Unterton, eine gequälte Zuversicht?

 

Sie hofft natürlich auch, dass die Kurse gestiegen sind. Sie hat noch keinen Überblick und lenkt auf ein anderes Thema. Artig erkundigt sie sich nach der Familie. Er fragt nach der Post. Das Gespräch ist damit beendet.

 

Sie hält ihm ein paar unerfreuliche Briefe unter die Nase. Hätte sie ihm gern erspart. Die Kunden beschweren sich. Davon will er natürlich nichts wissen.

 

– Es kommen auch wieder bessere Tage! Er sei schließlich ein Genie.

 

– Ja, schon, aber die Kunden verlieren das Vertrauen, was sollen wir tun? – Sie spürt seine zittrige Hand. Er wird ungeduldig, geht zum Schreibtisch und blättert in seinen Papieren. Die Geschäfte rufen – einige wichtige Transaktionen stehen auf dem Programm – alles was der Markt so hergibt.

 

Jetzt aber los! – es muss schnell gehen, sie soll sich beeilen. Wo sie nur ihren Kopf hat! Die Verluste der letzten Tage müssen ausgeglichen werden, die Zeit drängt.

 

Sie will sich sputen, kommt aber nicht vom Fleck. Eine Zitterpartie. Er hat sie noch immer im Griff. Aber er sollte doch besser die Hände frei haben. Sie macht ihn darauf aufmerksam, während ihm das Geld aus den Fingern rinnt. Da fällt ihm ein – er braucht so schnell wie möglich eine neue Geldquelle, sonst läuft hier gar nichts. Ob sie das verstanden hätte! – Oh ja! Sie erzählt von ihren Freunden. Dass die ihr die Hölle heiß machen und nach drastischen Maßnahmen verlangen, sonst würden sie aussteigen, über kurz oder lang. Da wäre ein Vertrauen verloren gegangen, wirklich schade, aber die Freunde hätten sich mehr erhofft von seinen Fähigkeiten.

 

Das war der falsche Ansatz. Das wollte er nicht hören. Wenn sie ihn jetzt sehen könnte, dann wüsste sie, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hat. Du dummes Huhn! Kopf ab! Aber sie kann ihn nicht sehen, bemerkt nicht, dass sich allmählich die gesunde Farbe aus seinem Gesicht verlor.

 

Zuerst wurde er rot, dann wurde er weiß wie die Wand, dann grau wie der Teppichboden – den sie dauernd vor Augen hat, weil er sie mit dem Kopf nach unten hält.

 

– Muss das sein? Ihr baumeln die Beine vor dem Gesicht. Sie bittet darum, wieder hochgenommen zu werden. Sagt, es wäre auf die Dauer doch zu unbequem. Und fängt schon an zu husten.

 

Er tut ihr den Gefallen, nimmt sie hoch, findet aufmunternde Worte und schlägt ihr mit der flachen Hand auf den Mund.

 

Das geht nun aber doch zu weit! Sie muss sich fragen, ob das alles noch einen Sinn hat. Sie bittet um eine Erklärung, weil sie die Welt nicht mehr versteht. Er hat in die falschen Aktien investiert und redet sich raus, ganz einfach. Das Parkett war diesmal zu glatt – Eis verkrustet, Schnee verweht, auch wenn er von gestern ist. Wir warten noch immer auf Neuschnee. Und das mitten im Sommer.

 

Naturkatastrophen sind eben nicht vorhersehbar – Lawinen gehen ab, Vulkane brechen aus, das Paradies kann die Hölle auf Erden sein. Wenn man daran verzweifeln möchte … Das Risiko eines Ausrutschers muss man einkalkulieren und die gefährlichen Papiere schön bunt ins warme Portefeuille einstreuen. Das hätten sich die Freunde denken können, auch wenn es nicht im Prospekt steht.

 

Es steht nicht alles im Prospekt – die Börse bietet keine Garantie auf eine gute Erholung. Das ist wie im Urlaub, der kann schon mal ins Wasser fallen. Wie gehabt – der Zimmerservice eine Zumutung, das Hotel noch im Rohbau, aber der Pool schon verdreckt. Man kennt das – die Palmen geknickt, der Strand verseucht, aber deshalb muss man doch nicht auf Urlaub verzichten. In den Bergen zum Beispiel hat es ihm überhaupt nicht gefallen. Das nächste Mal wird er wieder segeln gehen.

 

Er steht auf, wandert im Zimmer auf und ab. Die Erinnerung an den letzten Törn stimmt ihn milde. Da war er unter den richtigen Leuten, in richtig guter Gesellschaft. Da ist ihm so einiges gelungen. Weil die richtigen Leute nicht gleich den Kopf verlieren, wenn sie in eine Flaute geraten. Man muss schon auf die nächste Brise vertrauen können. Wer sich keinen langen Atem leisten kann, der soll an seinem Kleinmut ersticken.

 

Er glaubt wieder an seine Fähigkeiten, spürt schon gleich ein frisches Lüftchen sich bewegen und hält die Nase in den Wind. Sie dreht den Kopf zur Seite, da bleibt ihm aber die Luft weg! Immer das Gleiche – es macht ihn rasend, wenn er an stillstehendes Kapital denkt, an Kapital, das nicht für ihn bestimmt ist, an das er nicht herankommt. Überall sieht er falsch angelegtes, nicht in seine Hände gelegtes Geld, mit dem er schon etwas anfangen könnte. Es juckt ihn doch in den Fingern. Er macht einen letzten Versuch, zupft sie am Ärmel. Sie soll sich noch einmal mit ihrem Vater in Verbindung setzen, auch mit dem Verlobten, den Freunden. –  Oh ja! – da fällt ihr ein – die Hochzeit steht vor der Tür. Der Termin steht fest, das Brautkleid ist ausgesucht …

 

Was soll das? Wo geht sie hin? Dreht einfach den Kopf weg und denkt an die Brautschuhe … – Da muss er ihr doch gewaltig auf die Sprünge helfen! Der verträumte Blick zielt ja geradewegs an ihm vorbei! Sie ist mit ihren Gedanken anderswo, sieht sich auf einen Tanzboden gestellt, in weißen Schuhen, Größe 39, und überlegt, ob sie die Lackschuhe nehmen soll.

 

Ein Walzer spielt, sie hört den Taft ihres Kleides knistern, das Raunen der Leute. Sie wiegt sich im Tanz, dreht sich im Kreis – im Moment allerdings barfuß, sie hat sich noch nicht entschieden.

 

Der Boss wartet noch immer gespannt auf eine Antwort, aber die Puppe ist gar nicht mehr ansprechbar. Sie wiegt sich im Tanz, dreht sich im Dreivierteltakt … Da greift er ihr unters Kinn und holt sie sich mit einem scharfen Ruck zurück in seinen Blick, schaut ihr fest in die Augen. Die Musik bricht ab, der Faden reißt. Wie schade!

 

Wenn sie doch nur die Arme verschränken und auf dem Absatz kehrt machen könnte, aber sie hängt in der Luft.

 

Sie soll sich einmal erinnern! Es sei noch gar nicht lange her, ob sie das schon vergessen hätte? Die Gewinne seien enorm gewesen und die Freude groß! Niemand hat sich beschwert, aber jetzt … – Jetzt wendet er sich ab, hängt seinen Gedanken nach – den guten Nachrichten, den positiven Bilanzen, den erfolgreichen Geschäften. Es wird plötzlich ganz still im Büro. Das wäre eine gute Gelegenheit, denkt sie, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Sie will versuchen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, windet sich in Zeitlupentempo aus seinem Griff und muss aufpassen, dass die Scharniere nicht quietschen. – Aber jetzt! – (das Herz bleibt ihr stehen) (er reißt sie zurück) – wo er einmal (einmal großgeschrieben) – EINMAL (mit drei Ausrufezeichen) – EINMAL!!! einen Fehler gemacht hat!

 

Das war deutlich genug! Die letzten Zweifel sind ausgeräumt! Er ist ein Schwein! – Sie schlägt die Augen auf und nieder, ganz verschreckt, reißt sich zusammen, zwinkert ihm zu und bittet mit einem verlegenen Lächeln um Vergebung, schon wieder ganz bei der Sache … Und wird sich gleich an die Arbeit machen. Sie verspricht … – Ach, sie wird ihm ganz einfach ein Märchen erzählen, damit er sich beruhigt. Sie weiß schließlich genau, was er hören will. Der Goldesel verspricht, nach neuen Geldquellen zu suchen und wird auch gleich bei den Freunden anzurufen. Alles was in ihrer Macht steht. Sie wird sich bemühen, er soll sie nur endlich loslassen …

 

Zuerst will er den Zauberspruch hören.

 

– Was? Wie, der Zauberspruch? – Ja, wo hat sie nur ihre Gedanken … – Der Zauberspruch, der Zauberspruch … – will ihr nicht einfallen. Wie geht der?

 

Will sie ihm einen Bären aufbinden! Er fühlt sich nicht ganz ernst genommen, nimmt sie beim Schopf und schüttelt sie kräftig durch. Das Kleingeld für den Kaffeeautomaten klimpert in der Jackentasche …

 

– In guten wie in schlechten Zeiten! So geht der Spruch!

 

– Oh ja, ja ja! – wie konnte sie das nur vergessen. Aber bitte nicht mehr schreien. In guten wie in schlechten Zeiten. In guten wie … – sie wiederholt seine Worte – … in schlechten Zeiten, aber er hört gar nicht mehr hin, scheint ihrer längst überdrüssig, und mit einer kurz ausholenden Bewegung wirft er die Puppe gegen die Wand. Das Spiel ist aus.