die sey von welcher art sie wolle

 

Die Sucht. In meinem Fall war es das Rauchen. Ein Vorwort hier an dieser Stelle. Seit meiner ersten Zigarette, die ich mit dreizehn Jahren im hintersten Eck unseres Schulhofes mit meinen Freunden genoss, bis zum Tag meines Entzugs waren siebenunddreißig Jahre ins Land gegangen. Jahre, in denen ich gern geraucht habe. Mir hatte noch jede Zigarette geschmeckt.

 

Der Raucher kennt seine Lügen, und lebt in bestem Einverständnis damit. Ein Leben ohne Zigarette kam nicht in Betracht. Bis mir auffiel, dass die Zigaretten immer teurer wurden. Bis es plötzlich keinen Spaß mehr machte am Kiosk, an der Kasse im Supermarkt, am Automaten, mit Blick auf mein Portemonnaie.

 

Also begann ich Zigaretten zu basteln. Es gibt ja verschiedene Möglichkeiten, die ich in allen Variationen probierte, aber die Dinger schmeckten ganz einfach nicht.

 

Es war zum Abgewöhnen. Der Tabak war nicht der richtige, die Zigaretten kratzten im Hals oder verbrannten mir die Kehle und allmählich verging mir die Lust auf die nächste Zigarette. Endgültig und zufällig an einem Freitag, den Dreizehnten.

 

Ich bin ja nicht abergläubig. Mein Entsetzen so gut als möglich ignorierend schickte ich vorsorglich ein Gebet zum Himmel. Denn es gab kein Zurück.

 

Januar 2006. Sozusagen schlagartig, von einem Tag auf den anderen, über Nacht, hatte ich aufgehört zu rauchen. Keine große Sache, es brauchte keine Vorankündigung. Es war auch keine Entscheidung, die ich auf irgendwelche Fahnen schrieb. Das hätte mir zu viel Angst bereitet. Ich gab klein bei, und ich wusste, dass es für immer war.

 

Diese Feststellung war keine Überraschung. Ich bin nicht der Typ für ein ewiges Hin und Her. Zu faul und zu träge halte ich das Elend lieber aus.

 

Ein hartes Programm und ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt. Zwangsläufig ließ ich mich darauf ein und ergab mich willig in mein grausames Schicksal.

 

Es war grausam, aber ich will das nicht näher ausführen. Es handelt sich bei diesem Buch um keinen Erlebnisbericht. Ich habe auch keinen Therapievorschlag zu machen. Gar keine Ratschläge. Eine Collage. Das Buch selbst war meine Therapie, ist ein bisschen Tagebuch und Poesiealbum.

 

Kein Roman. Die schlimmsten Stunden und Schmerzen sind in einem ganz anderen Tagebuch vermerkt. Aber das muss niemand lesen.

 

Schrecklich unleidlich, diese Frau. Die Angelegenheit, das Aufhören und die schlechte Laune – ich kann aber sagen, dass meine Laune im Verlauf des Entzugs, der über ein Jahr dauerte, mit der Zeit besser wurde.

 

Mit den Gebrüdern Grimm war es sehr gut auszuhalten. Sie haben mir über das Schlimmste hinweggeholfen. Kein Märchen. Erfolgreich auf dem Weg zum Nichtraucher mit dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm – Band 20 Strom – Szische – SUCHT bedeutung und gebrauch.

 

Ergänzend zur sachlichen wie unsachlichen Beschäftigung mit dem Begriff SUCHT sind Kommentare zu tages-, kultur- und gesellschaftspolitischen Geschehnissen wie die Feier des schönen deutschen Fußballsommermärchens beigesteuert, ebenso passende wie unpassende Texte aus Büchern, die ich las, Zeitungsartikel, und ein paar Worte zu literarischen Neuerscheinungen des Jahres 2006 wie zum Beispiel das Häuten von Grass in der Zwiebel.

 

Zur Übertragung der Arbeit der Gebrüder Grimm muss ich anmerken, dass es den Anspruch auf Vollständigkeit oder Wissenschaft nicht erfüllt. Manches ist der Unterhaltung zum Opfer gefallen, zum Beispiel herkunft und form des Wortes SUCHT. Ich habe für meine Zwecke gekürzt oder gestrichen. Viel Spaß bei der Lektüre, und hören Sie auf zu rauchen.

Silvia Kiefer Mainz, 9. März 2007

 

 

 

 

 

 

 

du menschenkind, gehorche nicht

der sucht in deinem krancken blut,

so dich zur sünden reitzen thut

RINGWALDT lauter warheit (1598)

 

 

 

 

ganz schlechte Laune

 

Eine Empfehlung! PAROLE! Eine Tröstung …

 

Ich bin auf Entzug, habe Muskelkater, die Knochen schmerzen. Die Nacht war übel. Ein Lied? Nein, ein Stück Zitronenkuchen.

 

Die neue Sucht heißt Zucker statt Zigaretten.

 

Ich bin müde, krank  – die sucht, ein wort, welches ehedem eine jede krankheit bedeutet, die sey von welcher art sie wolle.

 

Energie ist mir verlustig gegangen, ich stehe kurz vor dem Wahnsinn, seit ein paar Tagen mit Bauchweh. Aber heute spüre ich den ersten Tag ein Neuerliches, ein Schreiben, ein Versuch, der PC öffnet seine Arme. Ich kann ja so nicht leben, nur mit Zucker, oder den ganzen Tag in der Stadt umherlaufen.

 

Zum Weglaufen.

 

sucht, sucht, du böse,

wie du gekommen in dreien tagen,

so komm und erlöse

in drei (oder dreimal drei) tagen.

dazu verhelfe gott usw. amen

zs. d. ver. f. volkskde 8, 390

 

Aus dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm GRIMM. Ein Musterband, den mir die Buchhändlerin schenkte. Ich weiß gar nicht, ob ich sie geküsst habe. Komplett kostet der Spaß, so von oben nach unten, gebunden von A-Z, bestimmt mehrere hundert Euro. Aber Band 20 gehört nun mir. Hier also ein paar Seiten über die Sucht, in der Hoffnung, sie zu überwinden.

 

B. sucht als autonomer begriff.

 

1) sucht ist seiner grundbedeutung nach ein concreter gattungsbegriff und dient als generelle bezeichnung für jede krankheit des menschlichen körpers, die mit deutlichen symptomen in erscheinung tritt und nicht auf mechanische ursachen (verletzung oder verwundung) zurückgeht.

 

"Der Wunsch zu schlafen war wie eine Sucht.

 

Und der Wunsch, weit weg zu fahren. Aus dem Abteil durchs Fenster sehn, in den Sog der Landschaft hinein, die sich in grünen Schlieren wegdrehte und verschwand. Und Menschen im Abteil, die zustiegen. Die aßen und schliefen. Die nichts von sich preisgaben. Die ausstiegen an großen Bahnhöfen, unschlüssig dastanden, eine Weile im Lärm. Die zögernd, zwischen Wartenden hindurch, in die Städte gingen.

 

So zögernd, daß man, nachdem sie längst verschwunden waren, nicht wußte, weshalb sie in zerdrückten Kleidern im Wind gestanden hatten. Vermuten oder ahnen konnte, daß sie, die Tasche unterm Arm, die Parkplätze verloren überquerten. An Schaufenstern vorbeigingen, ohne hineinzusehn. Wie Gestrandete am Ufer fremder Flüsse auf nassen Bänken saßen. Auf Treppen unter Denkmälern ins Leere sahen.

 

Menschen, die nicht mehr wußten, ob sie nun in diesen Städten Reisende in dünnen Schuhen waren. Oder Bewohner mit Handgepäck.

 

Irene lag im Dunkeln und dachte an die Stadt.

 

Irene weigerte sich, an Abschied zu denken."

HERTA MÜLLER Reisende auf einem Bein (1989)

 

a) so schon in den frühesten glossaren (seit dem 8.jh.) und lexikographisch bis ins 17., in ausläufern bis ins 18.jh. festgehalten.  in glossaren des 8.-13.jh. erscheint suht, suth als übersetzung von morbus, languor, molestia, querelae;  in glossaren des 15.jh.: morbus sucht, suchte, zucht, sycht. schon im 16.jh. wird sucht stellenweise von krankheit an die zweite stelle gedrängt: morbus kranckheit, sucht, siechtag; morbus ein kranckheit.  bei FABER (1587), DECIMATOR (1608) und REYHER (1686) wird morbus nicht mehr durch sucht glossiert.  in der folgezeit wird das wort von den lexikographen mehr aus den zusammensetzungen abstrahiert, als dasz es noch als eigenform lebendig empfunden würde: sucht (simplex non adeo usitata) morbus (1725); sucht kunte vor alters allein stehen; aber man findet es jezt meistens hinten an, als geelsucht.   seit ADELUNG (die sucht, ein wort, welches ehedem eine krankheit bedeutet, sie sey von welcher art sie wolle … im hochdeutschen ist es in dieser weitern bedeutung veraltet, indem es sich nur noch in einigen zusammensetzungen und nahmen einzelner krankheiten erhalten hat …) gilt in den dt. wbb. einfaches sucht im sinne von "morbus" schriftsprachlich als überlebt – wie das bis auf wenige ausnahmen auch dem literarischen befund entspricht.

 

b) als gattungsbegriff, der nach der absicht des sprechenden die verschiedenen möglichkeiten näherer bestimmung offen läszt, erscheint sucht in indefiniten fügungen aller art: ther heilant … heilta iogiuuelihha suht inti iogiuuelihha ummaht in themo folke (wer als erster in den teich Bethsaida stieg) heil uuas von so uuelichero suhti uuas bihabet;

 

dahein suht ist so getan,

und wirt diu salba gestrichen dran,

eine müeze deste semfter sin

WIRNT V. GRAFENBERG

 

– wo die lung einem schwirt oder andere sucht ann iro hat, sol man bibergeyle im in die nasen röuchen HEROLD-FORER Gesners thierbuch (1563);

 

 

 

 

Bibergeyle in die Nase

 

Ob das hilft …

 

Gestern in der Nacht hat mir die Lunge geschwirrt, wie Flitterzeug an einem alten Tannenbaum, der am Straßenrand liegt, und der Wind geht darüber, mal mehr und mal weniger, unregelmäßig … Ich muss den Apotheker fragen … mir ist so uuelichero … Aber ich denke, das Grimmsche Wörterbuch ist die bessere, die beste Medizin. Und weiter in der Not …

 

– der gebrauch setzt sich bis ins 18.jh. hinein unverändert fort: ein neuerer genius hat den einfall, für jede sucht einen art zu bestellen, um jede gründlich zu erforschen H. P. STURZ (1779); sprichwörtlich: were der sucht bei zeyt (1541).

 

Wehre der Sucht bei Zeit … Schöner Spruch! – Den ich wohl nicht gehört hätte, damals in der Pause, hinter der Schule, im Jahre 1969 bei der ersten Zigarette. Die Neugier war größer und der Schule hatte ich längst den Rücken gekehrt. Dummheit setzt sich immer durch. Bei mir hatte sie sich durchgesetzt.

 

c) im gleichen sinne faszt der plural alle oder mehrere einzelkrankheiten allgemeinbegrifflich zusammen:

 

… quad that siu uuari mid suhtiun befangen

Heliand 2988 Sievers

 

(Jesus) heilta manage fon suhtin inti fon sueren inti fon ubilen geiston … gleichfalls sehr häufig und wandellos durchstehend:

 

man sit da (bei der hl. Cordula in Köln) noch gnade vinden,

wat suchden den minschen anegeit

G. HAGEN buch v. d. st. Köln 385 chr. d. dt. st.

 

– der tod ertötet in tausenterlay weisz die elenden menschen, mit frost, mit hitz … und sunst mit manicherlay gebrechen und suchten A. V. EYB spiegel der sitten (1511); schon im 16.jh. wird dieser plural öfters nicht mehr als mehrzahl des simplex sucht, sondern als zusammenfassung der mit -sucht componierten krankheitsbezeichnungen empfunden: es seind vil sucht, die schwindsucht …, die geelsucht …, die geltsucht, die weynsucht, die biersucht JOH. AGRICOLA sprichw. (1534); letztlich greifft sie gern die wassersucht … an, sampt andern gefehrlichen süchten, welche sie gar hinrichten WIRSUNG artzneybuch (1588); wo der plural von sucht seit dem 18.jh. in der angegebenen bedeutung noch erscheint, da hat er stets diese engere function: ich gebrauchte stahl, china, kräutersäfte …, je nachdem ich die schwindsucht, die wassersucht, die gelbsucht oder irgend eine von den hundert suchten befürchtete H.P. STURZ (1779); bei den tanzproben hätte ich die schwind- und die gallsucht und alle möglichen suchten an den hals bekommen K. SCHULZE-KUMMERFELD lebenserinnerungen; es steht nur bey ihm, unter allen suchten und seuchen nach belieben zu wählen, denn er findet, wenn er will, die zeichen und zufälle von allem an sich BREMSER medizin. parömien (1806); in neuerer zeit nur gelegentlich in mundartlicher dichtung: a kunnt alli krankaten hailn, warns aft auswenigö schäden oder inwenigö fieber und suchten STELZ-HAMER aus ewigen dicht. (1884).

 

d) ebenso kann aber (singularisches) sucht auch auf eine bestimmte krankheit hinweisen, mag sie nun im vorhergehenden genannt sein bzw. aus dem zusammenhang sich ergeben oder nicht: (die blutflüssige spürte) thaz siu heil uuas fon theru suhti; bereits mit functioneller schwächung des begriffs: als er wider haim kam, begraif in ain grosse sucht ainer unleidlichen kranckheit FÜETRER bayer. chr.;

 

nicht gar ein lange zeit vergieng,

das der held durch zufällig ding

fiel in ein vast schwere krankheit.

solchs was dem Unfalo nit leid,

merkt, das die sucht täglich zunam,

darum er zu dem helden kam

MAXIMILIAN Teuerdank

 

– die kinder mit solcher sucht (fallsucht) beladen, sol man gar ordenlich mit speisz und tranck halten, die warm unnd trucken sind RUOFF hebammenbuch (1580);

 

weil aber d´sucht (ein eitriges geschwür im leib,

apostem) überhand genommen,

muszt man mit scharfen mittlen kommen

OPEL-COHN dreiszigj. krieg

 

– ironisch-bildlich (sucht als frauenkrankheit, d.h. erotische unbefriedigtheit, die als krankheit vorgetäuscht wird): zapffenkraut, so viel genug, macht von dieser sucht genesen …

 

 

 

 

von der Lust befreit?

 

Oder von der Kälte. Eine Unlust erzeugt? Oder Wärme.

 

Eine Befriedigung? Beruhigung? Ruhigstellung! Jedenfalls ein Zapfenkraut, ein schön gebauter Satz, eine schöne Wendung, sehen wir vom Inhalt einmal ab, dem eitrigen Geschwür im Leib.

 

Textleib, ein Körper der besonderen Art, eine Frauenkrankheit und überhaupt: Frauen und Helden, Speis und Trank, ein Teuerdank!

 

Auf Unser Wohl! Sehr erotisch, vorgetäuscht, die Schwangerschaft …

 

2) von der basis 1 b aus tritt gelegentlich eine erweiterung des bedeutungsraumes ein, indem der bezug auf concrete krankheitsbilder hinter dem allgemeinen vorstellungsinhalt körperlichen übelbefindens zurücktritt, das sachwort sich einer zustandsbezeichnung nähert. sucht rückt dann in die stelle eines negativen gegenbegriffes zu gesundheit ein und umschreibt den zustand des krankseins schlechthin.  in der regel steht es in diesem sinne ohne artikel:

 

dünckte jemand fremde, dasz ich in der angst verschwinde,

dasz theuer mittel fleisz und werther kräuter macht,

dasz weiser ärtzte kunst mir noch nicht wider bracht,

was sucht und angst verzehrt?

GRYPHIUS

 

– in feinfühliger neubelebung des alten sinnes aus dem abstracten compositum heraus: herrschsucht: doch wer hiesze es sucht, wenn das hohe hinab nach macht gelüstet! wahrlich, nichts sieches und süchtiges ist an solchem gelüsten und niedersteigen! NIETZSCHE (1896).

 

 

 

 

andererseits, auf der linie 1 d

 

Nein, auf der anderen Straßenseite, an mir vorbei, vorhin – ich war mit dem Hund.

 

Es wird Frühling, und: Es frisst der Neid an allen meinen guten Vorsätzen, die ich notwendigerweise, gezwungenermaßen zur Schau trage.

 

Keine Liebe, kein Geld und kein schneller Sportwagen. Ich gehe zu Fuß und meine Bescheidenheit verblasst. Genügsamkeit verzagt angesichts herrlicher Begierden. BMW Sport Cabrio, ein Traum. Der Verzicht nagt an meinem lahmen Bein.

 

Sie schiebt an das Verdeck zurück. Mir bleibt genügend Zeit, die Schnauze im Profil zu bewundern.

 

Die Sonne scheint, obwohl Regen angesagt war. Glück gehabt! Denke ich, bevor sie lachend (das Auto hat so eine tolle Schnauze) an mir vorbeifahren.

 

Ich habe geglotzt. Ich gebe es zu.

 

Ich hatte schon vorher geglotzt, als die beiden an mir vorbei zum Parkplatz schlenderten, zu diesem Auto in poliertem dunkelblau. Auch die beiden rassig, elegant – Leidenschaft pur, die zwei, demonstrativ.

 

Alle haben geglotzt. Es war eine Spur zu demonstrativ, zu laut, die Liebe, die Leidenschaft, die Hinwendung zum gleichen Geschlecht. Da nutzt kein zärtliches Händchenhalten, wenn zwei starke Frauen unbedingt etwas beweisen müssen. Aber wie gesagt, der Neid … Ich bin dann zu meinem Zitronenkuchen in die Wohnung, ganz schnell.

 

Die zwei gefragt, in welche Richtung sie fahren: rechts oder links? Was hätten sie gesagt? Geradewegs ins Glück! Nehme ich an.

 

3) andererseits, auf der linie 1 d, erfährt das wort eine begriffliche verengung, indem es für bestimmte (häufiger auftretende) einzelkrankheiten oder krankheitsgruppen prägnant wird.

 

a) zufrühest für "auszehrung, schwindsucht" (siehe unter schweinende, schwindende, auch abnehmende sucht) … "tobsucht" (siehe unter taube, tobende, wütende, rasende, törichte sucht) … gelegentlich für "aussatz" (siehe unter aussätzige sucht) … ferner auch für die weibliche periode (siehe unter natürliche sucht): so ein frau ir sucht zu wenig oder zu vil hat ORTOLF V. BAYERN artzneybuch (1488); die buggel ist gut den frauwen zu ihr sucht, die da heiszt menstrum (18jh.) bei STAUB-TOBLER.

 

b) am häufigsten in älterer sprache für fieberhafte erkrankungen, auch geradezu für "fieber"; eine klare und durchgehende abgrenzung des anwendungsgebietes gegenüber den synonymen ritte und fieber ist nicht erkennbar, trotz mythol. (siehe auch C 2: heisze, hitzige, hitzende, brennende, aber auch kalte und frierende sucht):

 

ich wâne, dat sî (die minne) starker sî

dan die socht oft dat fiever

VELDEKE

 

– daz (gekochtes veilchen) pringt den siechen slâf in hitzigem siehtum, sam die süht sint und sämleich siehtüem buch der natur; der mund ward imeals turr von innen und ussnan als einem siechen, der an einer suht lit vocabularien des 15.jh.: febris suchte, ritte vel suht, rit vel sucht, in Graubünden ist sucht "hitziges fieber", nach älterer angabe auch "nervenfieber", in einzelnen gegenden des Elsasz umschreibt die sucht (nicht wie sonst d´sucht) die "influenza".

 

 

 

 

gekochtes Veilchen

 

Heute Morgen total hungrig mit dem Gedanken an Text aufgewacht. Zu meinem Erstaunen, doch, ich fand das erstaunlich, so schnell, ein Fortschritt, erfreulich, das schon, aber auch erschreckend: die Assoziationsketten, die sich mir wenig sanft um den Hals legten, in den Mund.

 

Die Bausteine mir schwer im Magen lagen. Ich hatte Schluckbeschwerden, dann doch. Ich denke seit Tagen an eine beginnende Influenza. Aber zuerst das Veilchen.

 

Gekochtes Veilchen, wie grausam, dachte ich, bestialisch, kaum vorstellbar, das zarte Veilchen, man mag nicht daran denken.

 

Aber Textkörper, schön, dachte ich.

 

Textleiber. Ich roch förmlich den Textleib. Ein Laib Brot schob sich mir vors innere Auge, bitte sehr, danke schön, aufgeschnitten, in Scheiben.

 

Wie das mundete! Noch beim Kauen, gedanklich, kam mir die Bescheidenheit wieder in den Sinn, die Genügsamkeit, und wie es nagt, die Gier, die Sehnsucht nach Liebe, so ohne Mann.

 

Ich war weiterhin am Knabbern, an diesem Text, beim Essen, und hatte plötzlich Lust auf Schokolade. Auch wegen des Kannibalen. Es gibt ja Leute, die können auf die Liebe wie aufs Essen nicht verzichten. Unverdaulich! Ich suchte mich zu beruhigen. Es kam in den Nachrichten. Er wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

 

Ich habe den Fall nicht verfolgt, kenne auch seinen Namen nicht, die Umstände. Muss mir gleich die Zeitung holen. Pro und Contra Menschenfleisch. Vielleicht gibt es neue Erkenntnisse.

 

Wenn Weihnachtszeit wäre, in den Geschäften, in den Herzen der Menschen, ich würde sofort loslaufen, einen Nikolaus kaufen. Ein Stück abbeißen von der Schokolade. Und nach dem ersten Biss in das klaffende Loch starren. In diesen Tabubruch.

 

Ich weiß nicht, ob es der Vertreter der Anklage war oder ein Pressesprecher, der im Ringen um die richtigen Worte die richtigen Worte fand, der das fortwährende Entsetzen über die ungeheuerliche Tat im Gesicht trug, in die Kamera, in die Welt – Nachrichten vom dauernden Menschsein.

 

In den Nachrichten endet alle Poesie. In der Tat … Ich habe dich zum Fressen gern! Aber doch nicht in ECHT! In Echt jagen wir uns gegenseitig in die Luft, schneiden wir uns die Kehle durch – im Hass, nicht aus Liebe. Und was ich jetzt sage, ist natürlich völlig und so dermaßen abgedroschen, so völlig, so ganz und gar abwegig und falsch gedacht, aber wie viele Tote gab es gestern in den Nachrichten? Deshalb vielleicht doch oder gerade deswegen die folgende Überlegung, ein Tipp: Lasst uns handeln, bevor es zu spät ist! Fressen wir uns gegenseitig auf, stillen wir unseren Hunger an uns selbst, und haben wir uns endlich lieb!

 

Nein? Nein, das geht natürlich nicht. Da kommt es einem hoch, da übergeben wir uns sofort. So ist das. Gedankenstich. Ich brauche dann doch keine Zeitung heute. Die Schokolade ist gegessen. Und morgen in der Früh nur mehr Wortbrei für das zahnlose Maul!