Making of … WOYZECK!

 

 

 

Erbseneintopf

 

500 g getrocknete grüne Erbsen

1 1/2 L Wasser

1 große Zwiebel

1 Bund Suppengrün

5 Gewürzkörner

Salz

250 g geräucherten Speck

500 g Kartoffeln

Weißen Pfeffer

1 TL Majoran

1 Bund Petersilie

 

 

 

 

Gaukler im Supermarkt? Woyzeck? Erbsen … Die Gaukler wollen den Woyzeck spielen – bei Bigi in der Fabrikhalle am Rande der Stadt! Dort wird immer nur der Woyzeck gespielt – als Drahtseilakt, als Revue oder als Discofieber. Nur als Sozidrama kommt Bigi das Stück nicht auf die Bühne. Penner und Junkies gehen ein und aus, eine Verrückte sorgt für Aufregung, ein Lehrer steht unter Schock und eine Journalistin bringt alles durcheinander …

 

 

 

 

Premiere 18. November 2000, Kulturfabrik Alte Patrone in Mainz, weitere Aufführungen 23. und 26. November, außerdem am 13. Januar 2001 im Theater Moller Haus in Darmstadt

 

 

 

Schlechte Nachrichten

 

Am 27. Juni 2000 schreibt die Rhein-Main-Presse von einem nötigen Strukturwandel der Kulturfabrik Alte Patrone wegen einem wirtschaftlich unrentablem Start der seit neun Monaten außerhalb des Stadtkerns betrieben Kultureinrichtung. Gewinne könne man aus Sicht des möglicherweise neuen Betreibers mit einem reinen Kulturprogramm nicht erwirtschaften. Part of … bangt um seine Spielstätte und befürchtet, dass sich die Alte Patrone mit einem gehobenen Gastronomiebetrieb neuer Spitzenköche zu einem exklusiven Treffpunkt entwickelt, der dem freien Theaterensemble keinen Raum mehr lässt.

 

 

 

 

 

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst, (…) wie aus geölter glatter Luft kommen sie nieder auf dem verzehrten, von ihrem ewigen Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen Teppich im Weltall.

 

Rainer Maria Rilke über Picassos "Die Gauklerfamilie". Und am 9. Juli 1915 schrieb er auch über Büchners Woyzeck, in einem Brief an Maria von Thurn und Taxis:

 

Eine ungeheure Sache, vor mehr als achtzig Jahren geschrieben … nichts als das Schicksal eines gemeinen Soldaten, der seine Geliebte ersticht, aber gewaltig darstellend, wie selbst um die mindeste Existenz, für die selbst die Uniform eines gewöhnlichen Infanteristen zu weit und zu betont erscheint, wie selbst um den Rekruten Woyzeck, alle Größe des Daseins steht, wie ers nicht hindern kann, daß da, bald dort, vor, hinter, zu Seiten seiner dumpfen Seele die Horizonte ins Gewaltige, ins Ungeheure, ins Unendliche aufreißen, ein Schauspiel ohnegleichen, wie dieser mißbrauchte Mensch in seiner Stalljacke im Weltall steht, malgré lui, im unendlichen Bezug der Sterne. Das ist Theater, so könnte Theater sein.

 

 

 

 

 

Es spielten:

 

Bigi / Patricia Johannbroer

Harlekine und Janka / Heike Netscher

Pierrot und Alki / Stefan Schenkel

Kraftprotz und Freak / Björn Kaltwasser

Clown und Pennerin / Carola Unser

Ballerina und Junkie / Silvi Weiskopf

Lehrer / Wolfram Frech

Hässliche Tänzerin und Journalistin / Katharina Scheffer

 

Text und Regie / Silvia Kiefer

Projektleitung / Heike Netscher

Musik und Gitarre / Jan Kleinschnieder

Licht / Bernd Lauer und Barbara Malik

 

Plakat und Flyer / Matthias Frey

Programmheft / Heike Netscher

Druck / Druckerei Heinze

 

 

 

 

 

Büchners Drama in Variationen

 

Anna Sauerbrey schreibt am 20. November 2000 in der Mainzer-Rhein-Zeitung:

 

Bigi, die Besitzerin einer Fabrikhalle, in der immer nur der Woyzeck gespielt wird, telefoniert, um ihre nächste Inszenierung zu organisieren. Um sie herum ein Haufen chaotischer Irrer: Junkies, Gaukler, ein Penner, ein Lehrer unter Schock, weil er ein Kind überfahren hat. In Silvia Kiefers "Making of … Woyzeck!", das in der Alten Patrone Premiere feierte, ging eine gute Idee im Chaos der Gestalten unter.

 

Zu Beginn des Stückes erinnert sich Bigi an ihre erste Woyzeck-Inszenierung: Die Zuschauer, verbarrikadiert hinter Stacheldraht, mussten sich selbst Löcher buddeln und Sandsäcke schleppen. Polemische Seitenhiebe auf die Interpretationsfreiheit von Regisseurs sind die Stärke des Stückes.

 

Kiefer wirft mit ihrer Truppe "part of" die Frage auf, inwieweit der Sinn eines Stücks durch die Inszenierung entstellt werden darf. Woyzeck als Drahtseilakt unterm Zirkusdach? Woyzeck als rosarote Periode von Picasso?

 

Auch der Seitenhieb gegen die Interpretationswut der Kulturpresse gelingt. Gegen Ende des Stücks bringt ein Junky eine Verrückte um. Eine Journalistin schreibt in dem Glauben, es sei Teil der Inszenierung, einen hochtrabenden Artikel darüber.

 

Allerdings dauert es, bis im Gewusel der Figuren der rote Faden erkennbar wird. Die Idee ist gut, die Umsetzung nicht gelungen. Neben dem entfremdeten Stück Woyzeck in Bigis Inszenierung zeigt "part of" die soziale Wirklichkeit, die Büchner zu kritisieren suchte. Doch es entsteht keine Ordnung in der Abfolge der Szenen. Die Charaktere machen viel Lärm – aber keinen Sinn. Ein Lehrer hat ein Kind überfahren, ein Junkie bringt eine Verrückte um. Zwei Morde, aber keine plausible Verbindung zu Woyzecks Mord an Marie. Dazu kommt, dass ein großer Teil der Schauspieler nicht in den Rollen überzeugt.

 

An manchen Stellen versucht Kiefer mit Gewalt eine Verbindung zwischen den Handlungen ihrer Verrückten und Büchners Woyzeck herzustellen. Der Lehrer will in die Büchnerstraße, eine Irre kauft einen ganzen Einkaufswagen voller Erbsen. Trotzdem hinkt der Vergleich, die Verbindung hinter dem wüsten Treiben der Figuren bleibt verborgen.

 

 

 

 

Bigi: (wählt eine neue Nummer)

 

– Valentino! – Mein Valentino …  – Schön, deine Stimme zu hören. – Wie könnte ich dich vergessen. Schuhgröße 46 1/2 kann man nicht vergessen. – Ich habe dich doch nicht rausgeschmissen! Hey, wir hatten kein Geld mehr! Und deine ewig kalten Füße …

 

– Habe ich dir die Füße gewärmt?! – Mit meinem nackten Arsch habe ich dir die Füße gewärmt! Aber was nützt mir der schönste Valentino, wenn ich ihn nicht bezahlen kann?!

 

– Filialleiter? – Chefsessel?! – Hey, du Mistköter! (meint ihren Hund, den man aber nicht sieht, und wirft einen alten Schuh nach ihm) Weg da!

 

– Nee, bleib dran! Mein Hund sabbert nur grad an der Milch, die ich vor zwei Wochen schon auf den Müll geworfen habe. – Ja, ich habe dich geliebt. Nein, fürs Theater bist du eine Enttäuschung gewesen. Der Woyzeck war tot, noch bevor der erste Zuschauer überhaupt Platz genommen hatte.

 

– Mit dem ersten Blick hast du dich im Gebüsch versteckt. Und mit dem ersten Wort hast du ihn in die Wüste geschickt. Der Woyzeck ist dir verdurstet, verhungert, und dich hat das nicht einmal eine Schweißperle gekostet. Mit dem ersten Schritt hast du ihn zu Tode getrampelt, bist über die Leiche hinweggesprungen, ohne dich nass zu machen. Du hättest besser an Reit- und Springturnieren teilgenommen – die Gäule schinden! Aber du wolltest den Woyzeck spielen. Ein Langsteckenläufer, der seinen Vorsprung auszubauen wusste. Das Feld der Konkurrenten hinter dir lassend bist du ein Einzelgänger gewesen, der das Stück aus den Augen verlor. Der Woyzeck – er hatte niemals eine Chance gegen dich. Totgelaufen – mit Abstand geschlagen. Gewonnen hast immer nur du.

 

– Wie, die Verbindung war unterbrochen … eine andere Leitung … Was ich sagen wollte? – Du, ich suche einen Sponsor, Rudolf! Ich brauche Geld. – Warum schwitzt du denn so?! – Ich bin nur froh, dass ich nicht in deiner Nähe bin. Sonst müsste ich ja riechen, was du so von dir gibst, du kleines Bankangestelltenarschloch auf einem Chef-Leder-Sessel-Dreh-Stuhl! – Kein Leder? So ein Sitzunglück aber auch! – Ergonomische Armlehnen? – Ermöglicht ein entspanntes Sitzen? – Dann steck dir dein Geld in deinen kleinen, süßen und entspannten Arsch. (Und legt auf)

 

– Wunderbare Stille …

 

– Keine störenden Nebengeräusche. – Keiner hustet. Kein betretenes Schweigen – die Stichwörter sind gefallen, wann immer man sie gebraucht hat. – Kein Schuhgeklapper – der Text war laut und deutlich zu hören. Ich habe jedes Wort verstanden. – Keine Türen, die zum falschen Zeitpunkt ins Schloss fallen – Ein Auf- und Abtritt ganz nach meinem Geschmack …